Nun sind sie zurück aus Salzburg. Die falschen Proszeniumslogen der Semperoper stehen auf der Bühne des Dresdner Hauses direkt hinter ihren steinernen Vorbildern. In Salzburg standen sie als Zitate in einem modernen Theaterhaus und waren für die Osterfestspiele mit der Sächsischen Staatskapelle und ihrem Chefdirigenten quasi im Koffer mitgereist. Heimgekehrt, kann sie nun das Dresdner Publikum zur Premiere von Richard Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg« mit ihren Vorlagen vergleichen. Zwar sind die Proportionen hier und da gestreckt und gestaucht, doch haben sich die Bühnenplastiker selbst übertroffen. Was ist Stuck, was ist Kulisse? Der Dresdner Bühnenbildner Mathis Neidhardt verlängert das Semper-Portal in den Bühnenraum hinein, und auf der Vorbühne wiederholt sich das rote Gestühl des Zuschauerraums vor einer Bühne auf der Bühne.
Als Oberspielleiter inszeniert Hans Sachs in dieser Kulissen-Semperoper den Eingangschor der Meistersinger, wie es sich gehört, in einem gemalten gotischen Bühnenraum mit hübsch altdeutschen Kostümen. Er hingegen trägt den nachlässigen Chic urbaner Intelligenz: dunkelblaues Hemd, knittriges Leinensakko und eine verwaschene graue Jeans. Mit Hilfe der Kostümbildnerin Sibylle Gädeke hat sich der Regisseur Jens-Daniel Herzog hier offenbar ein Alter Ego erschaffen, das Georg Zeppenfeld voller Spielfreude zum Leben erweckt. Dieser Hans Sachs ist Hobbyschuster, Hobbyregisseur, Hobbypoet und Hobbyintellektueller. Grundsympathisch, verankert und doch immer auch distanziert von sich und seiner Umwelt, erinnert er, besonders nachdem er sich seines Sakkos entledigt hat, gelegentlich an Robert Habeck. Stimmlich gestaltet Georg Zeppenfeld den Sachs mit viel Witz. Nuancenreich beherrscht er alles vom fliederduftigen Schöngesang bis zum stichelnd burlesken Ton. Umwerfend piesackt er Beckmesser im zweiten Akt, wirft sich gar auf die Knie und treibt ihn, Hammer und Leisten auf den Boden schlagend, an den Bühnenrand und zur Verzweiflung.
Auf der Bühne ist vor der Bühne
Die Meistersinger sind ja eine Ensembleoper – und Dresden gelingt mit hervorragenden Gästen eine bis in den letzten Meistersinger überzeugende Besetzung. Sebastian Kohlhepp singt ein beeindruckendes Rollendebüt als David, den er lyrisch, jugendlich und differenziert anlegt. Vitalij Kowaljow gibt den Veit Pogner stimmlich beeindruckend und wotangleich als Vertreter der lokalen Stadtgesellschaft im Dreiteiler. Stolzing ist in dieser Inszenierung eine recht eindimensionale Figur: Ein Heldentenor in Zimmermannshose, den Klaus Florian Vogt stimmkräftig bis in die letzte Reihe erklingen lässt, immer noch eine Spur lauter als alle Kollegen. Auch mit den Frauenpartien kann diese Inszenierung wenig anfangen. Sie steckt sie in unvorteilhafte Farbkombinationen, die wohl eine gewisse Provinzialität und Naivität markieren sollen. Unter dieser stiefmütterlichen Behandlung leiden die Rollenportraits der beiden ausgezeichneten Sängerinnen Camilla Nylund und Christa Mayer auch musikalisch.
Alles in allem sieht das Regieteam in den »Meistersingern« ein Singspiel und baut sich mit dem Theater auf dem Theater eine Lizenz zur Leichtigkeit. Da werden die Gewerke des Theaters gefeiert, der Theaterschuster, der Chor tritt als ein Chor der Bühnenarbeiter auf. Im Zwischenspiel des dritten Akts spielt Beckmesser mit dem Orchester eine Slapsticknummer, bevor er sich hinter einem herumliegenden, blühenden Fliederast vor David und Magdalenen versteckt. Das versprüht eine Leichtigkeit wie im Sommernachtstraum.
Diese szenische Unbeschwertheit kommt Christian Thielemann sehr entgegen. Er legt den Orchesterpart vornehmlich leicht und durchsichtig aus und erlaubt so dem hervorragenden Sängerensemble ein großes dynamisches Spektrum, ohne dabei leisetreterisch daherzukommen. Er schwelgt auch gern im Blechklang, lässt es unbedarft protzig nach Bruckner klingen, und freut sich am reinen C-Dur-Klang. Hier feiert sich die Musik selbst, geschichtsvergessen.
Mich stimmt dieser Persilschein für Wagner und die Meistersinger gerade in Dresden nachdenklich. An der Bar im zwingerseitigen Vestibül musste ich mir schon anhören, was Thilo Sarrazin für ein kluger Kopf und welch profunder Kenner des Islams er doch sei, oder auch dass das westliche Abendland gerade einem Kreuzzug aus dem Osten zum Opfer falle. Sollte man in einer solchen Situation die Meistersinger zum harmlosen Lustspiel verklären, mit nachgebauten Proszeniumslogen Lokalbezug herstellen, ohne ihn ernstlich in Betracht zu ziehen, nur um sich eine Feier des Theaters und der Musik zu gönnen? Ein solcher Ansatz passt in und für eine Stadtgesellschaft, die sich nach Entlastung sehnt. Aber sind Kulissenschieberei, verhüllende Vorhänge und Illusionstheater wirklich die richtige Antwort?