Eine fantastische Nachricht zum Osterwochenende: nach einem halben Jahr Auszeit kehrt Boris Gruhl mit einer neuen Artikelserie zu »Musik in Dresden« zurück. In »Ballett am Bildschirm« widmet sich unser Kritiker außergewöhnlichen Momenten der Tanzwelt, die man in Quarantänezeiten, aber natürlich auch danach am heimischen Monitor nacherleben kann…
»Orpheus« vom Theatre National de Chaillot in Paris bei ARTHAUS MUSIK
Rasant und schräg, mit Temperament und voller Poesie, irgendwie ganz österlich, wenn hier in so ungewöhnlichen wie überraschenden Varianten die Überwindung der Tode ganz unterschiedlicher Arten kraft der Musik und des Tanzes gefeiert wird. Dieser »Orpheus« von Dominique Hervieu und Jose Montalvo* ist faszinierendes Tanztheater – für mich auch eine Osterliturgie der besonderen Art.
Hier singen die Tänzer, hier tanzen die Sänger, hier kommen in der musikalischen und tänzerischen Spanne von Barock bis Breakdance klassische Passagen mit Spitzentanz im Wechsel mit HipHop und anderen Street-Dance-Varianten auch so gut wie alle Motive zusammen, die ausgehend von den unterschiedlichen Quellen des Orpheus-Mythos Künstler über die Jahrhunderte angeregt haben. Opern, Ballette, Filme gibt es über diesen Sänger, dessen Töne die Herzen aller Lebewesen erreichte und erweichte, dem es sogar gelang, kraft des Gesanges die geliebte Eurydike von den Toten zu erwecken, somit die Macht des Todes zu brechen – auch wenn er die Geliebte wieder verliert, weil er die Auflage, sich auf dem Weg aus dem Hades nicht nach ihr umzusehen, wegen ihres schmerzhaften Schweigens nicht erfüllen kann. Der Sohn einer Muse konnte mit seinem Gesang zum Spiel der Lyra sogar die Gewalten der Natur bannen und die gefährlichen Klänge der Sirenen übertönen. Am Ende aber wird er von wilden, dionysisch berauschten Mänaden zerrissen; es heißt, er habe sich von der Liebe zu Frauen losgesagt und Knaben zugewandt.
Das ist der Stoff, aus dem man Theater macht, Theater mit Musik und Tanz und großen Bildern – das ist ein Thema für Künstler wie Dominique Hervieu und José Montalvo. Musik, Musik, Musik: Dies ist einer der vielen Eindrücke, die diese Aufzeichnung ihrer choreografischen Produktion »Orpheus« aus dem Pariser Théâtre national de Chaillot aus dem Jahre 2010 hinterlässt. Das ist ein musikalischer Parforceritt durch die Jahrhunderte. William Byrd, Monteverdi, Gluck, Tschaikowski, Philipp Glass; in einer pfiffigen Verfremdung klingt auch Offenbach an, dazu kommen Passagen von Yvan Talbot, Giuseppe Maria Jaccini und noch etliche andere, wie etwa die von »La Secte Phonétik«. Wir begeben uns mit diesem »Orpheus« auf eine phonetische Reise durch etliche Kulturen der Welt, denn zu den vertrauten Klängen aus europäischen Traditionen unterschiedlicher Epochen kommen die der dunkelhäutigen Protagonisten in diesem Ensemble orphischer Weltklänge.
Tanz, Tanz, Tanz: Das sind die anderen Eindrücke. Und auch hier kommen die unterschiedlichen Stile zusammen, hier werden die Grenzen aufgelöst. Die Sänger tanzen, die Tänzer singen, der Akrobat auf einem Bein als Orpheus überwindet im Tanz die Schwerkraft und ein Artist auf hohen, federnden Stelzen vollführt Varianten des tanzenden Wahnsinns, die in ihrer Art der Überwindung des Üblichen mit dem Mythos von der alle Grenzen zerbrechenden Kraft des Gesanges korrespondieren.
Und Bilder, Bilder, Bilder: Dominque Hervieu und José Montalvo holen die Geschichte in die Gegenwart und schaffen einen so wunderbaren wie überzeugenden poetischen Rahmen. Wer in Paris war, kennt sie, die Auslagen der Bücherverkäufer an den Promenaden der Ufer an der Seine. Und hier schlendert der einbeinige Akrobat und Tänzer Brahem Aïache, blättert in Büchern, wird fündig, legt sich unter einen Baum und beginnt zu lesen. Am Ende wird er erwachen, zu Ende lesen und weitergehen. Was er liest, was er erlebt, das sehen wir in dieser grandiosen Abfolge von Bildprojektionen, bei denen wir auf Pariser Straßen die herrlichsten Geschöpfe aus dem Fundus der surrealen Fantasien begegnen. Immer wieder – ganz im Stile der berühmten Prager Laterna Magica – verschwinden Menschen im Medium des Films, um verändert wieder herauszutreten oder mit sich selbst in einen bewegten oder klingenden Dialog zu treten.
In so bewegte wie bewegende Dialoge der Klänge, der Geräusche und vor allem des Tanzes treten auch die Protagonistinnen und Protagonisten dieser Produktion, deren Herkunftsorte mehr oder weniger erkennbar, auf jeden Fall aber höchst unterschiedlich sein dürften.
Dass diese Produktion bereits gut zehn Jahre alt ist, merkt man ihr ebenso wenig an wie der schon etliche Jahre früher entstandenen choreografischen Inszenierung der Barockoper ‚Les Paladins‘ von Rameau. Wer sie kennt, wird gerne die Handschriften von Dominique Hervieu und José Montalvo wiedererkennen. Und den Verantwortlichen ist es auch in diesem Falle gelungen für diese DVD die Atmosphäre des Theaters einzufangen und bei geschickter Kameraführung und Schnitttechnik die Bühnensituation auf den Bildschirm zu übertragen.
In diesem Sinne, »Ballett am Bildschirm«, frohe Ostern! Kunst kennt keine Grenzen: Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg? Hier siegt die Kraft menschlicher Fantasien.