Von hundert auf null. Auch das Konzertleben, normalerweise unverzichtbarer Aspekt des Städtischen einer Stadt, ist vollständig zum Erliegen gekommen. Gerade das Lebendige, Gemeinschaftliche beim Besuch der Live-Musik – häufig als Stärke im Vergleich zum Hören technisch wirkender CDs, LPs, Downloads oder Streams empfunden – bricht derzeit der Konzertkultur den Nacken.
Wer bisher im Kreis von Freunden und Bekannten darüber diskutiert hatte, ob Konzerte oder CDs/LPs wichtiger für den Musikgenuss seien, kann nun diskutieren wie er will – jetzt steht für einige Zeit fast ausschließlich Musik aus dem Lautsprecher zur Verfügung. Jeder, der Musik ernst nimmt, sollte die Situation als Chance be- und auf CDs bzw. Vinyl zurückgreifen. Denn damit eröffnen sich Möglichkeiten, die man bisher zu selten wahrgenommen hatte.
Ein Beispiel? Der Tod Pendereckis machte klar, dass man diesen großen Tonkünstler im Konzert, dessen Besuch man ursprünglich geplant hatte, nie mehr erleben wird. Aber warum sollte man sich nicht jetzt die Zeit nehmen, die Werke und damit auch den Werdegang Pendereckis mittels CDs zu genießen und nachzuvollziehen? Der Wegfall von Großveranstaltungen muss uns ja nicht veranlassen, gänzlich auf die Magie der entsprechenden Künstler zu verzichten. Da etwa der Dresdner Live-Auftritt von Philippe Jaroussky am 17. Mai gestrichen ist, würden CD-Aufnahmen dieses einzigartigen Countertenors den Zauber seines Gesangs vermitteln.
Das heißt keinesfalls, dass ein Ausfall der großen Festivals durch das Hören von CDs ersetzt werden könnte, um Himmelswillen nein! Allein schon bei den Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch fielen bei einer Absage (die bisher noch nicht erfolgt ist, aber bei den jüngsten Erlassen zu öffentlichen Veranstaltungen droht…) eine bemerkenswerte Zahl von Uraufführungen und auch die Fotoausstellung zu zehn Jahren Schostakowitsch-Tage weg, ohne dass CDs »ausgleichend« helfen könnten. Wären Platten nicht eine tröstliche Möglichkeit, den Faden zu dieser Musik nicht abreißen zu lassen, den Gedanken an Schostakowitsch, Tschaikowski, Beethoven, Weinberg, Schnittke und Co wachzuhalten?
Konzerte können auch Impulse geben für die weitergehende Beschäftigung mit einem Komponisten und dessen Musik aus dem Lautsprecher. Gerade dann, wenn der eher selten auf den Konzertprogrammen steht. Nachdem die Dresdner Philharmonie Ende November 2014 John Adams’ »Harmonielehre für Orchester« aufgeführt hatte, drängte es mich nach einem Mehr. Ich kaufte einige CDs von ihm, die ich seither immer wieder höre. Überhaupt – und ich betrachte hier innerhalb des unendlich großen Genre- und Stilkosmos beispielhaft zeitgenössischen Jazz und moderne Konzertmusik – spielt die Konzertgestaltung für die CD/LP-Nutzung eine besondere Rolle. Viele der interessanten Werke und Musiker schaffen es nicht oder selten auf die Konzert-Programmzettel – meist, weil das Aufführen von wenig Bekanntem ein wirtschaftliches Risiko darstellt. Wer das Seltene erleben will, hat meist nur die CD, Vinyl oder den Stream zur Verfügung (und manchmal nicht einmal die).
So hat nach meiner Erinnerung der faszinierende ungarische Saxofonist Mihály Dresch letztmalig Ende September 2008 in unserer Region gespielt, in der Freiberger Petrikirche. Wer die wunderbare Welt dieses Ausnahmemusikers, der Free Jazz mit verschiedenen regionalen Volksmusiken Ungarns und Osteuropas sowie Kammermusik verbindet, genießen will, wird sich nicht mit einem einzigen Konzert innerhalb von zwölf oder noch mehr Jahren zufriedengeben können. Aber ihm stehen mehr als fünfzehn CDs zur Verfügung, die Dresch im Laufe der Jahre aufgenommen hat. Ein Abenteuer! Ähnlich sieht es mit vielen weiteren hochinteressanten Musikern aus vieler Herren Ländern aus – per CD oder Vinyl kann man Entdeckungen machen und die Musik der Künstler wie Gábor Gado, Samo Salamon, Boris Kovač, António Pinho Vargas, Gianni Gebbia, Pascal Comelade, Lucas Niggli, John Wolf Brennan, Maria de Alvear, Ghédalia Tazartès sowie vieler, vieler weiterer kennenlernen und wertschätzen.
Wie aber an die CDs und LPs gelangen, wenn man noch keine eigene Sammlung hat oder auf die von Freunden nicht zurückgreifen kann? Der erste Weg wäre der ins Fachgeschäft. Davon gibt es nur sehr wenige, aber immerhin: Sweetwater, der renommierteste in Dresden, hat wie auch »Opus 61« seit gestern wieder geöffnet. Manchmal hilft der gut sortierte Online-Shop. Gerade bei Spezialitäten anderer Länder ist man mit »CDmusic« aus Prag, »FONO« aus Budapest oder »Serpent« aus dem polnischen Lublin gut bedient. (Allerdings ist die Lieferung an ausländische Adressen teilweise Corona-bedingt ausgesetzt; siehe die jeweiligen Webseiten.)
Ergo: Auch wenn derzeit keinerlei Konzerte stattfinden, sollten wir es mit Zoltan Kodály halten, der formulierte: „Der Zweck von Musik ist es, ein besseres Verständnis zu entwickeln, eine eigene innere Welt zu erschaffen und auszudehnen. Viele Menschen halten Musik für etwas Göttliches. Wenn wir die Grenzen unseres menschlichen Verstehens erreicht haben, verweist die Musik auf das Dahinterliegende, in eine Welt, die nicht erkundet, sondern nur geahnt werden kann.“ Warum sollten wir gerade jetzt auf eine solche Weisheit verzichten?