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Giselle, Giselle, Giselle…..

In der letzten Folge von »Ballett am Bildschirm« ging es um ein hierzulande so gut wie unbekanntes Ballett. Ich kannte dieses Werk ja auch nicht! Darauf gekommen war ich aus Interesse an einem der Tänzer, Roberto Bolle, vom Ballett der Mailänder Scala, der zu den Stargästen einer Gala des Dresdner Balletts am 18. Juli 1998 gehörte. An diesem Abend gab es auch eine Begegnung der besonderen Art: die italienische Tänzerin Carla Fracci, damals mit über 60 Jahren längst eine Legende, schwebte noch einmal über die Bühne der Semperoper.

Und weil ich mit dieser Folge besondere Aufnahmen und Mitschnitte des Balletts »Giselle« empfehlen möchte, geht das gar nicht, ohne auf den Film »Giselle« von Hugo Niebeling mit dem American Ballet Theatre aus dem Jahre 1968 zu verweisen: eben mit Carla Fracci, die bereits zehn Jahre zuvor zur Primaballerina des Balletts der Mailänder Scala ernannt worden war, in der Titelrolle.

Zuvor aber ein paar Anmerkungen zur besonderen Bedeutung dieses Ballet fantastique »Giselle oder die Willis« mit der Musik von Adolphe Adam zum Libretto von Théophile Gautier und Vernoy de Saint-Georges, in dem Motive aus Heinrich Heines Sagenerzählung »Willis« verwendet werden, weshalb das Ballett auch »Giselle oder die Willis« genannt wird. Mit diesem romantischen Ballett tritt die Ballerina als besonderes Wesen in das Rampenlicht. Die historische Ballerina der Pariser Uraufführung, die erste Giselle, war Carlotta Grisi. Der Spitzentanz steckte zur Zeit der Uraufführung 1841 noch in den Kinderschuhen, aber dennoch führte der Tanz der Ballerinen und der Ballerinos – mit zeitlicher Verzögerung freilich bei den Herren – geradewegs in die Höhe und in die Imagination der Schwerelosigkeit. »Giselle« mit der Musik von Adolphe Adam ist so etwas wie die Inkarnation des romantischen Balletts. Es ist eine Geschichte um Liebe, Tod und dessen Überwindung, dabei eine Geschichte von den Tag- und Nachtseiten des Lebens.

Die Tänzerin der Giselle muss dabei über unglaubliche technische Fähigkeiten und darstellerisches Charisma verfügen. Im ersten Teil muss sie das einfache Mädchen sein, das im Kampf mit schwachem Herzen der narkotisierenden Wirkung des Tanzes verfallen ist. Sie erlebt die große Liebe, wenn sie Albrecht begegnet; und die noch größere Enttäuschung, wenn sie ihn verliert, was für sie in den selbstgewählten Tod führt.

Im zweiten Teil, einer nächtlichen Szene unter den Rachefeen, eben diesen Willis, die untreue Männer strafen, indem sie diese in den Tod tanzen, muss die Tänzerin jene Emanzipation glaubhaft machen können, die sie befähigt, Rache in Liebe und Selbstlosigkeit zu verwandeln, und kraft des Tanzes Albrecht nicht in den Tod, sondern ins Leben zu führen.

Und hier setzt für mich, auch wenn die Ästhetik des Films vielleicht heutigen Sichtweisen nicht mehr insgesamt entsprechen könnte, eine Tänzerin wie Carla Fracci als Giselle Maßstäbe. Sie vermittelt geradezu exemplarisch, was es heißt, in keinem Moment die Technik des klassischen Tanzes zu demonstrieren, sondern sie als künstlerisches Mittel des Ausdrucks einzusetzen. So durchbricht sie die Grenzen des Alltäglichen und öffnet in assoziativer Kraft der Bilder, Bewegungen und Klänge Horizonte.

Ihr Partner Albrecht ist kein Geringerer als der dänische Tänzer Erik Bruhn, der 1986 im Alter von nur 57 Jahren verstarb. Er gilt als einer der bedeutendsten Tänzer seiner Zeit. Im vorliegenden Film finden somit zwei außergewöhnliche Künstlerpersönlichkeiten zusammen: eine für mich bis heute Maßstäbe setzende Interpretation dieses Meisterwerkes der Romantik.

Keine Frage, ich kann weitere Aufnahmen herzlich empfehlen. Bei ARTHAUS MUSIK gibt es die Produktion der Mailänder Scala in der genialen choreografischen Inszenierung von Patrice Bart, sehr nahe an den gut erhaltenen Aufzeichnungen des Originals der Pariser Uraufführung in zwei Aufführungsmitschnitten. Jeweils live, was auch den atmosphärischen Atem mitempfinden lässt.

Und jeweils in grandiosen Besetzungen. Unter der musikalischen Leitung von Paul Conelly tanzen im Mitschnitt von 1996 Alessandra Ferri die Rolle der Giselle und Massimo Murro den Albrecht. Roberto Bolle tanzt hier rasant und voller jugendlichem Charme einen flotten Bauernburschen. Im überschäumenden Pas de deux mit seiner Partnerin Beatrice Carbone sprühen die Funken!

Knapp zehn Jahre später, im Mitschnitt der gleichen Produktion, ist Roberto Bolle als Albrecht zu erleben. Hier vermag er es, die Tiefe der Tragik dieses Mannes nachempfindbar zu machen, eines Mannes, dem es an der mutigen Konsequenz mangelt, sich von überkommenen Zwängen zu befreien. Die Ukrainische Tänzerin Svetlana Zakarova, geprägt durch die künstlerischen Traditionen der St. Petersburger Schule, zu dieser Zeit eine der jüngsten Ballerinen am Moskauer Bolshoi-Theater, setzt  noch ganz andere Akzente in der Darstellung dieser so vielschichtigen Rolle der Giselle.

Der Dirigent ist im Mitschnitt von 1996 Paul Connely, David Coleman dirigiert die Aufführung von 2005. Beide sind bekannt und geschätzt auch in Dresdner Ballettaufführungen am Pult der Staatskapelle.

Welchen besonderen Akzent die Choreografie »She was black« von Mats Ek im Repertoire des SemperoperBalletts setzte, wird wohl niemand, der eine Aufführung erlebte, vergessen können. Dass die Dresdner mit dieser Kreation auch im Pariser Theatre des Champs Élysées vor vier Jahren zum Bühnenabschied von Mats Ek jubelnd gefeiert wurden, spricht für die wachsende internationale Anerkennung dieser Kompanie. An diesem Abend, und das erlebte ich nicht ohne Wehmut, trat in einem Tanzduo auch noch einmal die damals 60-jährige Ana Laguna, Eks Frau und Muse, auf.

Für sie in der Titelrolle hatte Mats Ek seine sehr spezielle Sicht auf das Ballett »Giselle« kreiert. Ebenfalls bei ARTHAUS MUSIK erschienen ist eine TV-Produktion von 1987 mit dem Cullberg Ballett dieser Choreografie von 1982. Eks Kreation gilt als außerordentlich gelungene Adaption eines klassischen Stoffes der romantischen Balletttradition. Das Ergebnis ist dabei alles andere als romantisch. Giselle ist in dieser Version, wenn auch in ganz anderer Weise wie ihre originale Vorgängerin, ebenfalls eine der Welt entrückte junge Frau, die sich über alle Hindernisse hinweg ins Leben träumt und tanzt. Im Original das herzkranke junge Mädchen vom Land, hier die dörfliche Närrin, akzeptiert und geschützt in der durch den Rhythmus aus Arbeit und Natur gleichförmig gestalteten archaischen Gesellschaft und der eher brüderlichen, sorgenden und letztlich pragmatischen Zuneigung Hilarions.

Wie üppig aber Sehnsucht, Leidenschaften und Lebenslust sich Bahn brechen, das zeigt der Tanz in dem surrealen Bühnenbild von Marie-Louise de Geer Bergenstrahle. Eine Landschaft, deren Hügel am Horizont üppige Brüste sind, umwuchert von hochschießendem Grün. Der Tanz sucht hier bei Giselle nicht den Höhenflug im Spitzentanz. Nein, hier sind es eigenwillige, eckige Haltungen der Füße, wegfliegende Arme, die wieder eingefangen werden müssen, ein Körper, den es gewissermaßen aus seiner Form reißt. Ein Mensch ohne Arg und Fehl und die Begegnung mit dem Menschen aus der anderen Welt; hier kein Prinz, sondern ein Städter, der ländliche Zerstreuung sucht, wird für Giselle, der Ironie und Spott fremd sind, ein Anlass zur Grenzüberschreitung in die totale Schutzlosigkeit. Eks Giselle treibt der Wahnsinn nicht in den Tod. Die Gesellschaft schließt sie weg, das Reich der betrogenen Frauen, der Willis, ist die geschlossene Anstalt. In Analogie zum Original begibt sich Albrecht für eine Nacht in diese ihm bisher unbekannte und verschlossene Welt. Wir erleben eine erschütternde Läuterungsszene und am Ende einen völlig schutzlosen, allein auf sich selbst geworfenen Menschen, dem aber – welche große Szene – Hilarion schützend dessen innere und äußere Blöße bedeckt.

Dass diese Version der »Giselle« mit informativem Beiheft erschienen ist, gehört zu den höchst erfreulichen Editionen. Auch hier gewöhnt man sich an einige zeittypische Kameraeinstellungen. Entschädigt wird man durch die Begegnung mit den Höhepunkten einer Tanzdramatik, die auch über etliche Jahre und angesichts neuer Entwicklungen nichts von ihrer Kraft verloren hat. Zudem nimmt man das Cullberg Ballet in seiner Glanzzeit wahr, die Partien der Giselle, des Albrecht und des Hilarion waren Sternstunden für die außergewöhnliche Ana Laguna, für so charaktervolle Tänzer wie Luc Bouy und Yvan Auzely inmitten eines grandiosen Ensembles. Zusätzliche Spannung entsteht durch die Musik, denn zur eigenwilligen Choreografie kommt die exzellente Wiedergabe der romantischen Partitur Adolphe Adams durch das Orchester der Oper Monte-Carlo unter der Leitung von Richard Bonynge.

Und Giselle in Dresden?

Immerhin, schon acht Jahre nach der Pariser Uraufführung von 1841 gab es die erste Aufführung in Dresden: im Königlichen Hoftheater, am 16. Februar 1849. Den historischen Theaterzettel und weitere Informationen stellte dankbarer Weise Janine Schütz vom Archiv der Staatstheater Dresden zur Verfügung.

So auch diese, dass es ab 1858 bis 1892 insgesamt fünf weitere Neueinstudierungen nach den originalen Choreografien von Coralli und St. George gab. Offensichtlich war es für jeden neuen Leiter des Balletts in Dresden unverzichtbar, dieses Werk im Repertoire zu haben!

Am 14. Februar 1912 gab es eine besondere Aufführung in Dresden. Hier als »Gisella«, statt »Giselle«, im Rahmen des ersten Gastspiels der Ballets Russes, in der zweiten Vorstellung des Kaiserlich Russischen Balletts unter Generaldirektor Serge Daghilew, in der Choreografie von Michel Fokin, mit der Ausstattung von Alexander Benois. Und dann, zwei Jahre später, höchst prominent besetzt, am 17. Mai 1914, beim ersten Dresdner Gastspiel der Anna Pawlowa mit ihrem Ballettensemble. Natürlich mit der Pawlowa selbst als »Giselle«.

Darauf eine große Pause. Keine Einstudierung des Balletts »Giselle« in Dresden bis 1970! Am 21. Februar 1970 feierte im damaligen Großen Haus, dem heutigen Schauspielhaus, die Choreografie des romantischen Klassikers von Nina Ulanowa – nicht zu verwechseln mit Galina Ulanowa – die im wesentlichen auch den überlieferten Traditionen folgte, ihre Premiere. Damit beginnen auch meine Erinnerungen an die Dresdner Einstudierungen und Aufführungen des Balletts. Grandios damals Karin Frenzel in der Titelpartie und Thomas Hartmann als Albrecht.

Am 21. Mai 2000 feierte das Fantastische Ballett in der Choreografie des damaligen Ballettdirektors Vladimir Derevianko seien erfolgreiche Premiere und derzeit, immer wieder in neuen Besetzungen, bis heute, die acht Jahre später kreierte Dresdner Uraufführung »Giselle« von David Dawson, die sich als sein erstes großes Handlungsballett durch große Klarheit der Personenführung auszeichnet und auf sensible Weise auch mit lang nachwirkenden Assoziationen gegenwärtiger Ausdruckskraft des Balletts überzeugt.

Und bei aller Freude über das weite Spektrum großartiger Aufnahmen dieses Balletts: eine kleine lokalpatriotische Träne kann ich mir nicht versagen, verbunden mit dem Wunsch, ob es denn auch einmal möglich sein sollte, Dresdner Kreationen mit dem SemperoperBallett am Bildschirm zu sehen? Sehen lassen könnten sich nämlich sowohl die Aufführungen als auch die Tänzerinnen und Tänzer allemal.

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