Dass es im Werk von Dmitri Schostakowitsch heute noch Neues zu entdecken gibt, ist schon verblüffend. Dass die Internationalen Schostakowitsch-Tage Gohrisch, obwohl sie gar nicht stattfinden, nun Schostakowitsch-Uraufführungen herausbringen, ist spektakulär.
Aber geplant ist geplant, auch wenn zunächst ja überhaupt nicht planbar gewesen ist, Jahrzehnte nach dem Tod des Komponisten Dmitri Schostakowitsch noch unaufgeführte Werke von ihm zu finden. Der Musikwissenschaftlerin Olga Digonskaya, Leitende Archivarin am Moskauer Schostakowitsch-Archiv, ist das aber zum nun schon wiederholten Male gelungen. Dass in diesem Jahr gleich zehn (!) Entdeckungen aus dem Nachlass ans Licht kommen sollten, grenzt ans Sensationelle. Für ihre Verdienste hätte Olga Digonskaya daher am ersten Juli-Wochenende den Internationalen Schostakowitsch-Preis Gohrisch 2020 erhalten.
Die Ehrung muss ebenso wie das Festival selbst und so vieles sonst aus dem aktuellen Musikleben ins kommende Jahr verschoben werden. Nicht aber die Uraufführungen! Das hat sich Tobias Niederschlag, der Künstlerische Leiter der Schostakowitsch-Tage, fest vorgenommen. In kürzester Zeit hat er eine Reihe von Mitstreitern davon überzeugt und darf sich nun auf einen ganz besonderen Start in den Juli freuen, bei dem Gohrisch sozusagen im Zentrum zwischen den U.S.A. und Russland stehen wird.
An historischem Ort beim einstigen Gästehaus, in dem Schostakowitsch 1960 und 1972 zwei Mal zu Gast gewesen ist und bei seinem ersten Aufenthalt das 8. Streichquartett c-Moll op. 110 komponierte, wird ein Uraufführungsreigen zusammengeführt, der als Stream in alle Welt gesendet werden soll. Die aus Moskau stammende und in München lebende Pianistin Yulianna Avdeeva kommt dazu eigens nach Gohrisch, wo sie mit Schostakowitschs 1. Klaviersonate op. 12 das virtuelle Konzert eröffnen wird. Nach diesem Frühwerk des Komponisten wird Avdeevas Landsmann Daniil Trifonov, der in Nischni Nowgorod geboren wurde und heute in Connecticut zu Hause ist, mit drei ohne Opuszahl vorgefundenen Fugen und einem Scherzo op. 1a aus seinem Wohnzimmer zugespielt.
Kurze Kompositionen des jungen Dmitri Schostakowitsch, die quasi direkt aus den Tiefen des Notenarchivs in die virtuelle Weltöffentlichkeit gelangen. Weitere sechs bislang ungehörte Klavierstücke aus den Jahren 1918 bis 1920 – so etwa ein »Trauermarsch im Gedenken an die Opfer der Revolution« und ein Stück namens »Nostalgie« – werden gleich darauf von Dmitry Masleev aus Moskau in den Uraufführungs-Stream übertragen. Passender Bestandteil dieser Jugendwerke Schostakowitschs ist auch die Petitesse »Im Wald«, die bereits 2019 in Gohrisch uraufgeführt werden konnte.
Zum Abschluss der nun auf ausschließlich unbekannte Werke komprimierten Schostakowitsch-Tage wird nochmals Yulianna Avdeeva aus dem Pavillon des einstigen Gästehauses zu hören sein und eine im bekannten Zyklus der Präludien und Fugen op. 87 nicht verwendete Komposition spielen. Dieses ebenfalls ohne Opuszahl vorgefundene cis-Moll-Präludium ist vom Komponisten Krzysztof Meyer vervollständigt und um eine Fuge bereichert worden.
All diese Schostakowitsch-Entdeckungen sind dank der Zusammenarbeit von Arte Concerts sowie MDR Kultur vom 5. Juli an im Netz zu finden, außerdem ab 19.30 Uhr auch im regulären Programm von MDR Kultur und MDR Klassik.