Prohlis steht in der mentalen Landkarte vieler Dresdener auf einem der hinteren Plätze. Von Bewohnern anderer Stadtteile ist die netteste Reaktion häufig: “Ach, du wohnst ja so weit draußen!” Welches Kino der Vorurteile im Kopf des Gegenübers abläuft, möchten sich Prohliser lieber gar nicht erst ausmalen. Dabei war es Ende der 80er Jahre eine begehrte Wohngegend: Universitätsmitarbeiter lebten neben Arbeitern, Dramaturginnen neben Straßenbahnfahrerinnen. Viele zogen zwischenzeitlich weg, manche blieben und raunen sich etwas zu über die günstige Verkehrsanbindung und die grüne Idylle des Geberbachs.
Die meisten Fassaden sind neu verkleidet, schon seit Jahren. Nur einige der Hochhäuser leuchten noch, matter als früher, in ihrem original-orangenen Kachelkleid. Eines steht gerade eingerüstet. Diese Himmelsriesen haben die Dresdner Sinfoniker zu einem Projekt animiert. Gemeinsam mit dem Societaetstheater, das sich seit Jahren im Stadtteil mit sommerlichen Projekten hervortut, haben sie ein Konzert erdacht. Alphörner aus Betonhöhen.
Sechzehn dieser folkloristischen Instrumente, neun Trompeten und vier Tuben haben sich auf den Dächern der umliegenden Gebäude verteilt. Hinzu kommen vier Perkussionisten mit chinesischen Dà-Gû-Trommeln auf dem Parkhausdach des Prohliszentrum. Die Alphörner schallen von den höchsten Betonbergen, den Siebzehngeschossern, die anderen Blechbläser stehen auf mittlerer Höhe eines langgestreckten Zehngeschossers. Und ja, Alphörner sind Blechblasinstrumente, obwohl sie meist aus krumm gewachsenen Fichten gefertigt werden. Die Klassifikation hat mit dem Mundstück zu tun, und ähnlich wie beim ventillosen Naturhorn oder bei einer Barocktrompete werden die Töne nur durch unterschiedliche Lippenspannung erzeugt.
Der erste Teil des Konzerts ist – zumindest an dem Ort, an dem ich lausche (über eine Straße hinweg vom zentralen Einkaufszentrum aus gesehen) ein akustischer Reinfall. John Williams’ Fanfare, einst für die Olympischen Spiele in Los Angeles komponiert, sollte das nachmittägliche Konzert festlich eröffnen. Die komplexe Rhythmik zerbrach sich aber an der waghalsigen Aufstellung. Bei Entfernungen von 100 Metern und mehr zwischen den Musikern fällt alles zwangsläufig auseinander – wie auch die drei folgenden Kompositionen von Giovanni Gabrieli. Die Instrumentalkompositionen des venezianischen Organisten sind musikhistorisch einschlägig. Gern wird ihnen die Emanzipation der Instrumentalmusik auf der Schwelle zum Barock in die Schuhe geschoben. Wichtiger aber noch ist ihre mehrchörige Anlage, also das Wechselspiel mehrerer Ensembles. Eine Praxis, für die der Markusdom weit über Italien bekannt war. Dort verteilten sich Chöre auf den vielen Emporen der Kirche und konnten so den Besucher mit einem überwältigenden Raumklang überraschen. Ein Neubaugebiet ist allerdings kein Sakralraum, und so klapperte und holperte es doch gewaltig zwischen den einzelnen Gruppen.
Ganz anders klingt dies bei dem eigens für Prohlis komponierten Stück des Münchner Komponisten Markus Lehmann-Horn. »Himmel über… « beginnt mit massig ansteigenden Klangflächen der Alphörner. Verteilt auf vier verschiedene Hochhäuser, können sie sich die Bälle zuspielen. Allerdings wird hier mit extraschweren Medizinbällen hantiert. Lang hallt es durch die Plattenschluchten. Da reiben sich die Klänge, da rollt es über die Hörer im Tal hinweg. Auf der einen Seite stehen hoch oben zwei Vierergruppen, deren Grundtöne mit F und Ges sich im Abstand einer kleinen Sekunde reiben. Auf den Höhen am anderen Ende des Tals blasen zwei Gruppen, deren Grundtöne im Ganztonabstand F und Es nicht minder dissonante Töne erzeugen können. Die Klangflächen brechen sich an den umliegenden, gläsern glatten Hängen. Und doch steckt in diesen Klangflächen auch immer der holzig warme Naturklang der alpinen Instrumente. Ein wenig Urklang, ein wenig Pastorales umschwirrt den Beton.
Lehmann-Horn nimmt sich der Herausforderung der räumlichen Entfernung an. Er setzt auf Spaltklang, setzt unabhängige Klangereignisse gegeneinander. Polymetrisch, polymotivisch überlagern sich Schichten. Die Position des Hörers wird irrelevant. Sobald die Schichten nebeneinanderstehen und die Hörerfahrung polyperspektivisch wird, kann es nicht mehr klappern. Es geht nicht mehr um Mehrchörigkeit, sondern um ein Wahrnehmungsexperiment der Vielschichtigkeit. Wie viele unabhängige Rhythmen oder Melodien oder Klänge kann man zugleich wahrnehmen? Pulsierende Alphörner, aberwitzige Glissandi, Flattergeräusche, Flatterechos, Blaskapellenzitate oder das Piepen eines rückwärts einparkenden Nutzfahrzeugs (welches natürlich nicht zur Komposition gehörte).
Manche schließen die Augen, andere schauen irritiert. Manch einer pöbelt und hupt. Viele Fahrräder sind unterwegs. Familienausflügler mit Sonnenhut. Viele, die sich sonst nie nach Prohlis verirren würden. Sie tragen ihre Fahrradtaschen und ihren ausgefallenen Schmuck als Distinktionsmerkmale vor sich her. Dazwischen die Prohliser, sie grüßen sich, kommen mit Nachbarn und Fremden ins Gespräch. So viele Menschen sieht man hier sonst selten. Und sie alle klatschen am Ende, auffallend länger als in den Konzertsälen dieser Stadt sonst üblich.