Wer da gedacht hat, das böse Virus würde nur Bösewichter wie Berlusconi, Bolsonaro und Boris J. sowie jede Menge mehr oder minder namenlose, also in der schillernden Öffentlichkeit eher unbekannte Menschen treffen, sieht sich – wenig überraschend – getäuscht. Es war wie immer alles nur eine Frage der Zeit. Wie in jeder Krise, nicht zuletzt auch der allgegenwärtigen Lebenskrise namens Corona, heißt es irgendwann: „Die Einschläge kommen näher“. Oder, reichlich frei nach Rainer Maria Rilke: „Wer jetzt kein Haus hat, in das er sich zurückziehen kann, wird nie ein Haus haben, in das er sich zurückziehen kann.“ Das alles gilt natürlich auch in der femininen Form dritte Person Singular.
Wer auch immer im Frühjahr 2020 kein Haus mit Garten oder wenigstens eine Wohnung mit Balkon bzw. Terrasse gehabt hat, dürfte den sogenannten Lockdown nicht unbedingt als erstrebenswertes Lebensereignis empfunden haben. Was haben wir uns alle gefreut, als wir die eigenen vier Wände wieder verlassen durften, als die ersten Lokale (sofern sie die Schließzeit überlebt hatten) wieder öffnen und Gäste empfangen durften. Und erst recht, als Theater- und Konzertbetriebe wieder Kunst und Kultur anbieten konnten, der das Publikum – wenngleich bei drastisch vermindertem Platzangebot – wieder beiwohnen durften.
Doch nun steigen sie wieder, die Fallzahlen und: Absagen von Kunst und Kultur. La Netrebko hat es erwischt. Dabei war sie doch eine der Ersten, die kurz vorm Sommerbeginn wieder auf der Bühne stand und just an der Semperoper in Dresden als Prinzessin Elisabetta in einer von Johannes Wulff-Woesten genial arrangierten Kurz-und-Klein-Fassung von Verdis »Don Carlo« debütierte. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Yusif Eyvazov ließ sie sich feiern, sorgte für überregionale Schlagzeilen und hausinterne Verstimmung. Was hätte mit diesen Gagen denjenigen Sängerinnen und Sängern geholfen werden können, die teilweise seit vielen Jahren für das vokale Renommee des Hauses gesorgt haben – und sich nun plötzlich als Bittsteller auf dem Arbeitsamt wiederfanden. Weil nicht fest angestellt und nur mit Stückverträgen beschäftigt, von denen sie sich nun nichts mehr kaufen konnten.
Respekt, dass es inzwischen trotzdem wieder Konzerte und Musiktheater gab, hübsch unter Labels wie »Semper Essenz« (Oper) und »Variation« (Staatskapelle) verpackt. mit frischem Wagemut wollte und sollte auch das Ballett des Hauses letztes Wochenende wieder essentiell etwas beitragen – »We will dance!« lautete der absichtsvolle Titel dieses Programms von Ballettdirektor Aaron S. Watkin. Bedauerlicherweise mussten die ersten Abende wegen eines Coronavorfalls in der Company abgesagt werden. Heute Abend wird das Versprechen, endlich wieder tanzen zu wollen, aber endlich eingelöst.
Der – laut Eigenwerbung furiose – Titel ist angelehnt an das ursprüngliche Spielzeit-Motto »Dance into the Future« dieses Ensembles. In einer Ballett-Gala wird die Company Highlights aus ihrem Repertoire präsentieren, darunter Choreografien von Aaron S. Watkin, Marius Petipa, Hans van Manen, William Forsythe, Alexander Ekman und Jiří Kylián sowie von David Dawson, Michel Fokine, Joseph Hernandez und Nicholas Palmquist. Besondere Vorfreude verbindet Watkin, der seit nunmehr 15 Jahren Ballettdirektor der Semperoper ist, mit zwei Uraufführungen: Palmquists »These Arms« und Hernandez’ «A List of Beginnings«.
In den verbleibenden Vorstellungen von »Semper Essenz: We will dance!« werden sämtliche Tänzerinnen und Tänzer der Company zu erleben sein, so die Neuzugänge der aktuellen Saison, die französische Ballerina Sofiane Sylve, der brasilianische Ballettstar Marcelo Gomes sowie der italienische Principal Dancer Carlo Di Lanno.