Der erste Eindruck ist ungewöhnlich. Gut 300 Menschen in der Semperoper, auf Abstand, im Parkett und in den Rängen. Aber es hat den Anschein, als ließen sich diese Abstände überwinden. Die Stimmung, die Atmosphäre, in so einender Konzentration, beinahe von andächtiger, erwartungsfroher Aufmerksamkeit: das führt die Menschen zusammen in ihrer Hinwendung zum Tanz, zu ihrem Ballett in Dresden.
Dass uns an diesem Abend in gut 90 Minuten diese vergängliche Kunst bewegter Augenblicke, die der Worte nicht bedürfen, so nahe kommt, uns berührt, nachklingt und nach schwingt, das verdankt sich der klugen Programmkonzeption des Dresdner Ballettdirektors Aaron S. Watkin. Etwas Wehmut schwingt auch mit, klar, denn zunächst erinnern Ausschnitte aus Watkins erfolgreicher Choreografie des romantisch-klassischen Balletts »La Bajadère« nach den originalen Überlieferungen von Marius Petipa daran, was derzeit eben in vollem Umfang nicht möglich ist.
Aber schon sind solche rückblickenden Gedanken verflogen, wenn Tänzerinnen und Tänzer mit dem Pas de Six und mit dem Pas de Quatre alle trüben Gedanken wegtanzen. Dazu erste Höhepunkte, wenn uns Svetlana Glieva und Denis Veginy in den Hauptpartien des Balletts als Gamsatti und Solor mit technischer Eleganz und individueller Präsenz an die ästhetischen Quellen der Ursprünge dessen führen, woraus sich die folgenden Beiträge entwickelt haben.
Wie erfreulich ist es zu sehen, etwa im Pas de Quatre der Herren Anthony Bachelier, Gustavo Chalub, Václav Lamparter und Rodrigo Pinto aus »Raymonda« mit der Musik von Alexander Glasunow, wie es gelingen kann, in der Achtung vor den originalen Choreografien Marius Petipas alle Vorzeigegestik falsch verstandener Techniken des klassischen Balletts kraft künstlerischer Individualität zu überwinden. Welche Kraft von einer einzelnen Tänzerin auf der großen, leeren Bühne ausgehen kann, das nimmt man gerne wahr, wenn Alice Mariani Variationen der Raymonda tanzt.
Und dann: die ersten Klänge des Cellisten Norbert Anger am Rande der Bühne lassen ein besonderes Flair vernehmen, als könne man die Stille hören. Wenn sich dann Sangeun Lee aus dem Dunkel in das leicht getrübte Licht bewegt, mit diesen so zerbrechlich wirkenden Führungen der Arme, als »Der sterbende Schwan« nach der berühmten Choreografie von Michail Fokine aus dem Jahre 1907, zur Musik von Camille Saint-Saëns, dann wird es ganz still, dann möchte man sich fragen, wie es denn nur möglich ist, dass es dem Tanz hier gelingt, Todesangst zu symbolisieren und dann zu überwinden.
Natürlich ist die Musik an diesem Abend von besonderer Wirkung. Mit seinen Arrangements für eine kleine Orchesterbesetzung, mit seiner umsichtigen und den Atem des Tanzes beachtenden Leitung gelingt es dem Dirigenten Benjamin Pope, jenes Zusammenwirken der Klänge und des Tanzes in der Korrespondenz zur Weite des Raumes auf sehr intensive Weise umzusetzen.
Noch einmal zurück in das Jahr 1846, als in Paris des Ballett »Paquita« uraufgeführt wurde. Eigentlich wurde dieses Ballett erst richtig bühnentauglich durch die Aufführung, am 27. Dezember 1881 in St. Petersburg, durch das im zweiten Aufzug hinzugefügte große Divertissement und dem Grand Pas für das Solotanzpaar. Was nun hier in Dresden zu erleben ist, dürfte so wohl vorerst einmalig sein: zur Musik von Éduard Deldevez und Ludwig Minkus gibt es in pausenloser Abfolge acht Variationen der Ballerinen und eine des Ballerinos (Julian Amir Lacey als Lucien d´Hervilly). In diesen neun kurzen Variationen scheint sich beinahe der ganze Kosmos der Techniken klassischer Tanzkunst zu eröffnen – mit den Drehungen, Sprüngen, den Arabesquen auf der Spitze, den Varianten der Cabriole mit dem seitwärts hoch geführten Arm der Tänzerin als Zeichen des Bezuges zur Höhe beim leichten Sprung, nahe noch am Boden, als ginge der Tanz jetzt über in den Flug. Und immer wieder diese Momente höchster Energie, etwa in der Kunst der Pirouette bei minimaler Berührung des Bodens.
Das ist gut, diese Momentaufnahmen vorüberziehen zu lassen, denn schon im nächsten Moment, wenn Alejandro Martínez und Skyler Maxey-Wert zur Musik von Henryk Mikolay Górecki einen Ausschnitt aus Hans van Manens Choreografie »Kleines Requiem« tanzen. Sie tanzen es nicht allein, denn wie in einem einsamen Monolog durch die zärtlich erotische Nähe der beiden Männer ausgeschlossen ist Jenny Laudadio auf ihrem Weg des Verlöschens. Hans van Manen brachte wie kaum ein anderer die Emanzipation der Tänzer in die Tanzkunst des 20. Jahrhunderts, vor allem wie hier, wenn zwei Männer gleichberechtigt im Pas de deux tanzen. Dass sich nun noch im Kontext der zeitgenössischen Entwicklung des Tanzes technische Ansprüche und individuelle Kraft des Ausdruckes mit der Kraft persönlicher Assoziationen verbinden, wird in diesem so hingebungsvoll getanzten Duett spürbar. Allein, auch nach so intensiven Momenten der Nähe, führen die Wege der beiden Männer doch in die Einsamkeit.
Hans van Manens »Kleines Requiem« sollte eigentlich als Dresdner Erstaufführung mit der Premiere des ersten Ballettabends dieser Saison, »Vier letzte Lieder«, ins Repertoire kommen. Nun wissen wir: darauf zu warten, lohnt auf jeden Fall.
Noch wesentlich weiter in der ästhetischen Entwicklung des Balletts geht William Forsythe, und ohne einen Beitrag dieses Meisters des 20. Jahrhunderts, der nun im November mit dem Deutschen Theaterpreis »Der Faust« für sein Lebenswerk geehrt wird, wäre diese Gala des Dresdner Balletts wahrhaft unvollständig. Dann traut man ja auch seinen Augen kaum, wenn man in den beiden Ausschnitten der Kreation »Artifact« zu Musik von Johann Sebastian Bach mit Verfremdungen von Eva Crossmann-Hecht so einiges, jedenfalls von der grundsätzlichen Motivation her, mit dem unerbittlichen Anspruch höchster Techniken des Tanzes, blitzartig zu erahnen scheint. Von diesen Spitzenvarianten der klassischen Ausschnitte, jetzt in der Spitzentechnik der Gegenwart. Wie Forsythe dabei die Körper der Tänzer zum einen in ganz neue Bereiche des Ausdruckes, dann aber auch bis in regelrecht grenzüberschreitende Varianten der Bewegungsexplosionen führt, das können die Dresdner eben besonders gut. Hier sind es Alejandro Martinez, Houston Thomas, Marcello Giombelli, Rodrigo Pinto und James Potter im 1. Canon, Joseph Gray, Johannes Goldbach, Kristóf Kovácz und Casey Ouzounis im 2. Canon.
Wenn schon Erinnerungen an große Momente, dann auch an eine so wunderbare Kreation wie »On the Nature of Daylight« von David Dawson, der als Hauschoreograf an die 15 Arbeiten hier kreiert hat. Dieses ganz wunderbar getanzte Duett von den beiden neu verpflichteten ersten Solisten Sofiane Sylve und Carlo Di Lanno berührt durch die tänzerische Nähe und Zuneigung in der so ungemein melancholischen Eleganz des Tanzes zum grundierenden Klangsound von Max Richter.
Der Humor hat auch seinen Platz. Gewissermaßen als kleines, heiteres Intermezzo tanzen Kaitlyn Casey und Julian Amir Lacey einen Ausschnitt aus Alexander Ekmans »Cacti« zu life gespielten Passagen aus Joseph Haydns Streichquartett Nr.16.
Der Dresdner Tänzer Joseph Hernandez hat Lust am Überschreiten der Grenzen, an der Suche nach neuen Räumen, neuen Klängen, neuen Bewegungen, neuen Formen und Chancen des tänzerischen Ausdrucks. Das hat er sowohl mit Arbeiten für das Semperoper Ballett gezeigt, aber ebenso auch mit choreografischen oder tänzerischen Arbeiten in der freien Szene, zuletzt unter freiem Himmel auf der Dresdner Hauptstraße. Bei aller Freiheit – frei von ästhetischen Ansprüchen sind seine Arbeiten nicht. In seiner Uraufführung mit dem kräftigen Sound des jungen Dresdner Musikers und Komponisten Johannes Till lässt er Aidan Gibson, Sangeun Lee, Raquél Martinez und Courtney Richardson sowie Christian Bauch in optischen Grenzbereichen zwischen Hell und Dunkel tänzerisch agieren, dazu im bewegungsmäßigen Dialog mit der elektronischen, raumgreifenden Klangkraft. Erkennbar auch immer Motive ganz unterschiedlicher Dialoge individuell geführter Bewegungen mit denen der Gruppe.
Dann eine erste Arbeit in Dresden des amerikanischen Choreografen Nicholas Palmqvist. Keine Frage, es möge bitte nicht die letzte sein. Es macht einfach großen Spaß zu erleben, wie in dieser kurzen Uraufführung zum Sound der 60er Jahre von Otis Redding so richtig die Post abgeht. Christian Bauch, Casey Ouzounis und Marcelo Gomez, der sich nun nach Gastspielen in der letzten Saison, als neuer erster Solist und Ballettmeister des Ensembles vorstellt, mit voller Lust und tänzerischer Bravour als so grandiose wie charmante Party-Boys. Mittanzen leider (noch) nicht erlaubt, dennoch scheint im Verlaufe des Abends spätestens jetzt der Abstand zwischen der Bühne und den Zuschauenden überwunden zu sein.
Ja, auch noch etwas fürs Gefühl, für das große, wer ein wenig schluchzt, muss sich nicht schämen. Francesco Pio Ricci tanzt zu Musik von Dirk Haubrich, stark angelehnt an die besinnlichen Klänge des Adagios aus Beethovens erstem Streichquartett, das finale Solo aus »Gods and Dogs« von Jiří Kylián. In dieser Kreation, deren Titel sich sowohl auf Motive altägyptischer, mythologischer Darstellungen eines Gottes im gegenüber zu einem Hund oder auf die freundlichere Variante, dass Gott dem einsamen Adam nach der Trennung von Eva einen Hund schenkte, geht es in verschiedenen Varianten schon um Themen wie Vergänglichkeit, Leben und Tod, Ende und Beginn. Aber eben auch immer wieder um Neuanfänge, seien sie auch noch so zaghaft. Es bleibt unklar, ob das Licht hinterm geheimnisvollen Vorhang aus unzähligen Schnüren längst verloschen ist, oder eben nicht. Im finalen Solo tanzt Francesco Pio Ricci vor dem immer bewegten, geheimnisvollen Hintergrund und vor dem so wunderbaren, vom leisesten Luftzug bedrohten Licht einer einsamen Kerze an der Rampe der großen Bühne, vor dem jetzt dunklen Abgrund des leeren Orchestergrabens. Ja, das Licht auf der Bühne verlischt, der Tänzer verliert sich schemenhaft in anbrechender Dunkelheit, aber das kleine Licht, das leuchtet.
Der Tanz geht weiter! Einen treffenderen und berückenderen Abschluss nach dieser Hommage an die Kraft dieser Kunst, über alle Abstände und Einschränkungen hinweg, kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen.
Weitere Aufführungen: 4., 16., 18., 25. Oktober, jeweils 19 Uhr