Mein Unbehagen mit dieser Doppel-CD beginnt exakt nach vier Sekunden – mit einer kleinen Schlumprigkeit des Arrangements von »Tochter Zion« in den Violinen (wenn Sie’s genauer wissen wollen, fragen Sie einen Kruzianer, die beherrschen Tonsatz). Unüberhörbar holprig wird’s im Orchestersatz dann bei 3:18. Und überhaupt: ein von einem hohen Blechbläsersatz dominiertes Stück wurstelig von Es-Dur nach C-Dur modulieren? Wow.
Zugegeben: den meisten Käufern der Scheibe werden solche Details schnurzpiep sein. Die Zielgruppe von »DAS GROSSE ADVENTSKONZERT – DAS STUDIOALBUM ZUM KONZERT IM STADION« (alles in Großbuchstaben) ist nämlich recht genau definiert: erstens alle, die noch keine Klassik-CD besitzen. Und zweitens alle, die schon die »Drei Tenöre«-CD besitzen und jetzt noch eine Klassik-CD besitzen möchten. Ach, was: einfach alle, denen es egal ist, ob sie »Hark! The Herald Angels Sing« auf einem Steinway D-274 oder einem Kawai-Digital-Piano hören. Hier, falls Ihr Ironiesensor kaputt ist, ist es ein E-Piano.
Höhepunkt der ersten CD: »Ihr Kinderlein kommet« im ewig schönen Satz von Ulrich Schicha, mit einem jubelnden Solo eines leider ungenannt bleibenden Knabensoprans. Hier glänzen die oberen Register des Chores. Die Männer klingen fundiert und freudenvoll, die Dynamik ist über alle Strophen klug ausbalanciert, die Konsonanten sitzen, schlicht „eene Legge“.
Danach nuschelt ein Schlagersänger einen Text von Rolf Zuckowski. Er habe nie erwachsen sein wollen. Von außen sei er hart wie Stein geworden, und doch habe man ihn oft verletzt. Er wisse, bald sei es für ihn zu spät. Das ist neben einem »Feliz Navidad«, bei dem man den Kruzianern (zumindest denen, die später bei »Es ist ein Ros‘ entsprungen« das ‚R‘ anständig rollen) die Fremdscham direkt anzuhören meint, der musikalische Tiefpunkt der ersten CD.
(zum Vergleich: Aufnahme unter Martin Flämig)
Klaus Florian Vogts Interpretation von »O Holy Night« auf der zweiten Scheibe – interessant, ein bisschen zu groß das Vibrato vielleicht, allerdings klingt der erfahrene Tenor mehr als einmal kurzatmig, ein offensichtlicher Versinger in einer Verzierung (2:00) geht einfach so durch. „Ich mag solche Crossover-Geschichten sehr“, behauptet der Sänger in einem Einspieler, der über Facebook verbreitet wurde. Naja. Im Corona-Jahr müssen Freiberufler eben auch finanziell sehen, wo sie bleiben.
Hineingehört haben wir dann noch in Tine Thing Helseths »Ave Maria« – verdammt gut! Kristallene Intonation. Perfekter Ansatz, kein Gramm Fett zuviel. Leider schwimmt Birgitte Volan Havik, die Soloharfenistin der Osloer Philharmonie, im Hall etwas davon, wie schon 2009, auf dem zweiten Album der Trompeterin, »Mitt Hjerte Alltid Vanker«, als… MOMENT MAL! Das wird doch nicht… „Siri, was höre ich?“ Ja. Eine elf Jahre alte Aufnahme. Wäre ja auch zu schön gewesen.
Was wird im Gedächtnis bleiben von der fünfundzwanzigjährigen Amtszeit des Kreuzkantors Roderich Kreile? Sein Kampf gegen die Bestrebungen der Stadt, Stiftungsgelder des Chores für die Renovierung des Kulturpalastes zu verwenden? Der Erweiterungsbau als zeitgemäße Heimat für die Alumnen? Marketing-Kapriolen? Die Querelen um die Männer, die an der Abifahrt ihrer Klasse teilnahmen und deswegen 2017 von der Sommertournee des Chores ausgeschlossen wurden? Ein Kruzianer, der auf Youtube Hitler ins Stadionkonzert hineinmontierte? Die Fernseh-Soap »Engel, Bengel und Musik«? All das.
Und klangästhetisch?
Da habe ich nun ein schildkrötiges »Sind die Lichter angezündet« im Ohr. Auf der CD streckenweise unisono gesungen. Von E-Harpsichord, Schlagzeug, Bassgitarre und Saxofon begleitet und mit künstlichem Hall übergossen. Jesus Christus.
DAS GROSSE ADVENTSKONZERT. DAS STUDIOALBUM ZUM KONZERT IM STADION. 2CD, Dresdner Kreuzchor & Roderich Kreile. Camilla Nylund. Sabrina Weckerlin. Tine Thing Helseth. Klaus Florian Vogt. Samuel Koch. Peter Maffay. Cross Bell Orchestra & Peter Christian Feigel. 21 EUR / 49,50 EUR Geschenkebox mit Herrnhuter Stern. Hier bestellen.