Die Sachsen taumeln derzeit in den nächsten harten Lockdown – und die Autoren von »Musik in Dresden« kommen mit Gabentisch-Empfehlungen an! Wer die von Last-Minute-Panikkäufern verstopfte Dresdner Innenstadt am Wochenende meiden möchte, muss also wohl oder übel auf Online-Händler zurückgreifen. Oder – sollten die nicht morgen auch noch verboten werden – auf die Angebote findiger Ladenbesitzer, die ihren treuesten Kunden Buch- und Hör-Schätze bis an die Haustür liefern…
In jedem Fall starten wir unseren Vorschlagsreigen mit einer Brücke aus Klängen von 1983 bis in die Gegenwart. Drei konzertante Opernaufführungen im Dresdner Kulturpalast, verknüpft mit dem Namen des derzeitigen Chefdirigenten der Dresdner Philharmonie, Marek Janowski.
Es war das Ereignis 1983! Nach Abschluss der legendären »Ring«-Einspielung der Staatskapelle mit einem erstklassigen Ensemble international führender Sängerinnen und Sänger gelang es, Wagners komplette Tetralogie mit Vorspiel noch einmal konzertant in den Dresdner Kulturpalast zu holen. Theo Adam als Wotan sorgte mit seinem Abschiedsmonolog in »Die Walküre« für Gänsehaut. Und als Loge setzte der im Opernfach bis dato vornehmlich als Mozart-Tenor wahrgenommene Peter Schreier Maßstäbe. Weil diese Einspielung unter Janowski bis heute nicht an Bedeutung verloren hat (und seit 2012 in einer ansehnlichen Box vorliegt), unsere erste Empfehlung für den 2020er Gabentisch.
Mit den konzertanten Aufführungen der Operneinakter »Cavalleria Rusticana« von Pietro Mascagni und Giacomo Puccinis »Il Tabarro«, mit dem er sein Spätwerk »Il Trittico« eröffnet, stellte sich Janowski kurz nach Beginn seiner aktuellen Amtszeit als Chefdirigent der Dresdner Philharmonie vor. Eigentlich ein Novum, Oper konzertant mit diesem Orchester. Hier kommt ja dem Ensembleklang besondere Bedeutung zu. Und da überzeugt die Philharmonie mit ungewöhnlicher Klarheit des Klanges, mit Genauigkeit musikalischer Akzente, die kraft ihrer Direktheit vor allem persönliche Wahrnehmungen emotionaler Berührungen möglich machen. Hier rauscht nichts vorbei, alles hat seine Zeit. Die Leistungen der Sängerinnen und Sänger sind dem Livecharakter geschuldet, authentisch; grandios allerdings der Chor des MDR mit besonderen dramatischen Impulsen.
Wie sich dann in Puccinis Schicksalstragödie soziale Grundierungen der unglücklichen Menschen auf dem Schleppkahn am Ufer der Seine mit der Melodik aufkeimender Sehnsüchte mischen, ist eine Herausforderung für das Orchester und den Dirigenten. Wieder bewährt sich der Chor des MDR, das Solistenensemble vermittelt auch hier eher die Authentizität momentaner Wahrnehmung als die mehrfach korrigierter Studioatmosphäre.
Boris Gruhl
Der Dresdner Cellist Friedrich Thiele (24), Preisträger im ARD Musikwettbewerb 2019, hat im Oktober seine erste Kammermusik-CD veröffentlicht. »con moto« heißt die Aufnahme, und es ist schon beim Anhören der 2. Cellosonate von Johannes Brahms deutlich, dass sich dieses Motto für Thiele keineswegs nur auf das Tempo der Bewegung bezieht, sondern auf eine innere emotionale Bewegung. Immer wieder zwingen Akzente und besonders gelungene Spannungsbögen zum Hinhören. Besonders versiert zeigt sich Thiele ebenfalls in der Musik des 20. Jahrhunderts, die mit Dutilleux und Schostakowitsch auf der CD vertreten ist. Spannend!
Die Sopranistin Heidi Maria Taubert ist in der Dresdner Kirchenmusik seit langem eine gefragte und geschätzte Solistin, arbeitet aber auch überregional mit verschiedenen Ensembles der Alten Musik zusammen, wie derzeit auch im Kuhnau-Projekt des Leipziger Ensembles opella musica. Mit dem Posaunisten Ercole Nisini erstellte sie mit »Passacaglie d’amore« ein Programm über die Schmerzen und Freuden der Liebe zur Zeit der Renaissance und des Frühbarock vor. Neben der Passacaglia zieht sich eine damals bekannte Canzona wie ein Faden durch die Lieder, die Taubert gemeinsam mit versierten Instrumentalisten mit viel Gespür für die jeweilige Stilistik darbietet – musikalisch entspannend und aufregend gleichermaßen.
Schreiben, Lesen, Klavierspielen, Zuhören. Diese wunderbar nährenden Tätigkeiten betreibt Anna Zepnick Böhm schon ihr ganzes Leben. Schön, dass sie nun die Welt der Musik mit der Welt der Geschichten zusammenbringt und uns mit ihrem sehr persönlichen Hörbuch zum Innehalten und Lauschen einlädt. Auf der kürzlich erschienen CD »und singt ewige Lieder« wurden die poetischen Texte mit Live-Improvisationen verbunden – hinzu gesellten sich Musiker wie Jo Aldinger und Frieder Zimmermann. Das Hörbuch ist als Download bei bandcamp beziehbar oder direkt bei der Künstlerin erhältlich.
Alexander Keuk
Ursprünglich kommen sie beide aus Serbien, kennengelernt haben sie sich als Studenten vor gut zwanzig Jahren in München. Die Pianistin Mirjana Rajic und der Klarinettist Ognjen Popovic gründeten damals ein Duo; nach einigen Konzerten trennten sich allerdings ihre Wege. Mirjana zog nach Dresden, konzertiert und unterrichtet seitdem in der sächsischen Landeshauptstadt, während Ognjen nach Serbien zurückkehrte und Soloklarinettist der Belgrader Philharmoniker wurde. Diese kurzweilig zu hörende CD ist nun ihre »Reunion«, ihre künstlerische Wiedervereinigung, die die beiden mit Duos von Saint-Saens, Norbert Burgmüller, Malcolm Arnold, Eugène Bozza und zwei glutvollen, vielleicht allenfalls ein klitzekleines bisschen zu gefälligen Eigenkompositionen von Ognjen Popovic feiern.
Wo ich das kleine Ensemble Polyharmonique wohl zum ersten Mal gehört habe? 2016, beim Heinrich-Schütz-Musikfest? Oder auf der 2015 erschienenen CD »Musicalische Seelenlust« mit Musik des Thomaskantors Tobias Michael? Egal, jedenfalls dreht sich die neue, im Oktober erschienene Scheibe mit Schütz’ »Geistlicher Chor-Music 1648« seit einigen Tagen im Player. Die sechs Gesangsstimmen (drei Kruzianer, ein Windsbacher, die u.a. in Dresden ausgebildete Sopranistin Joowon Chung und die in Detmold und Hannover ausgebildete Sopranistin Magdalene Harer) stellen gemeinsam mit ihrer kleinen Continuogruppe ein warmes, bebendes, intimes Klangbild aus. Kruzianerkollege Oliver Geisler hat den spannenden Text im Beiheft verfasst, der einen in Schützens Welt richtig hineinsaugt. Und die Gestalterin der CD, die Ehefrau (?) des Tonmeisters, war – wie das Leben eben so spielt – schon mal Finalistin im Hellerauer Fotografiewettbewerb PORTRAITS. Das ist je gewißlich wahr!
Das große Lesebuch »Begegnungen mit Peter Schreier«, herausgegeben von Matthias Herrmann, erinnert mich an die »Dresdner Kuriosa«, einen liebenswerten Sammelband kleiner Erinnerungen und Schnurren, der vor zwanzig Jahren unter jedem dritten Dresdner Weihnachtsbaum lag. In dem Nachwort, überschrieben »Der Herausgeber über sich«, schildert Herrmann, der selbst seit 33 Jahren an der Dresdner Musikhochschule tätig ist, seine enge Freundschaft mit Schreier. „Wir trafen uns, auch mit seiner Frau Renate und Freunden, im Schillergarten. Oder besuchten gemeinsam ein Konzert, verbrachten erfüllte Tage in Wien, fuhren dort zum Heurigen nach Heiligenstadt oder speisten den berühmten Tafelspitz in Plachuttas Restaurant auf der Wollzeile.“ Andere, ähnlich eng mit Schreier befreundete Musiker tragen lesenswerte Texte und berührende Erinnerungen bei; berühmtere Zeitgenossen spenden kurze Grüße oder schon anderweitig früher erschienene Interviews. Eine „richtige“, inhaltlich fundierte Würdigungsschwarte ist das eigentlich nicht (dafür wäre es zu früh), aber man erinnert sich beim Schmökern der kleinen Widmungen und Nachrufe an den Ausnahmesänger Peter Schreier, an seinen Humor und seine große Bescheidenheit bei stets größter künstlerischer Glaubwürdigkeit. Ein typisches Dresdner Buch, wohl vor allem für Dresdnerinnen und Dresdner.
Ein weiteres Buch lege ich dem geneigten Gabentischler vor, diesmal allerdings als Warnung. Von Inhalt und Anspruch her ist es ziemlich genau das Gegenteil des Schreier-Bandes. Herrmanns Hochschulkollege Michael Heinemann hat mit »Beethovens Ohr – Die Emanzipation des Klangs vom Hören« ein Buch zum Beethovenjahr vorgelegt, das wie eine Vorlesung in zwölf thematische Kapitel gegliedert und leider unheimlich schwer zu lesen ist. An besonders skurrile Sätze habe ich anfangs vergnügt Eselsohren geknickt, mich angriffslustig in die Dechiffrierung gekniet – und das irgendwann einfach aufgegeben. „Die Destillierung eines Motivs, das zentral für ein Stück werden wird, ist das Resultat eines Prozesses sukzessiver Rationalisierung eines Körperbewusstseins, das seinen Ausdruck in einer Klangvorstellung findet. Dessen Artikulation bezeichnet ein Moment von Arbeit, trägt jedoch unhintergehbar die Spuren des Subjekts, das im musikalischen Motiv im doppelten Wortsinn aufgehoben ist: sublimiert und bewahrt.“ Oder: „Ungeachtet des Kant’schen Regulativs, dass Anschauungen ohne Begriffe blind seien, bedeutet die allzu rasche Substruktion solcher Parameter die Beschränkung eines geistigen Potenzials nach den Modi eines Systems, dessen Virulenz vorauszusetzen nicht nur methodisch prekär ist.“ Denn: „Erst die Projektion der satztechnischen Gestaltung auf die Person des Komponisten, die in der Vortragsanweisung explizit wird, erhellt – um eine Dichotomie Gottlob Freges aufzugreifen – die Bedeutung dieses Stückes, dessen Sinn sich vordergründig in der Vermittlung unterschiedlicher musikalischer Charaktere beschränkte. Die Analyse der Struktur ist jedoch nicht nur durch die Paratexte, hier von Vortragsanweisungen, zu ergänzen, um zum Gehalt vorzudringen, sondern in gleicher Weise durch den Blick auf die Klanggestalt, die einer einer Reduktion auf motivische Konstellationen oder das bloße Arrangement von Tonvorräten kaum schemenhaft deutlich würde.“ (über op. 132). Schließlich: „Dass erst »Vernunft« als Objektivierung affektiver Bedingtheit durch Form Kunst als Kommunikation ermöglicht, wird explizit gemacht durch die Prozessualität der Komposition, deren Diskurs hier in außergewöhnlicher Weise körperhaft fundiert ist und zusätzliche Intensität gewinnt durch die Tatsache, dass als erster Interpret des Werkes der Komponist selbst firmierte, der seine eigene Körperlichkeit pianistisch (symbolisch) artikuliert.“ Entschuldigung: das ist nichts als musikintellektueller Ipsismus, der es dem Leser so schwer wie möglich zu machen sucht, zur eigentlich einfachen Aussage vorzudringen – und wird Musikwissenschaftsstudenten von boshaft-augenzwinkernden Schwiegermüttern daher hoffentlich nur als Schrottwichtel-Artefakt unter den Baum gelegt. Ob der Klappentext übrigens von Heinemann verfasst wurde? Auf gerade neunzehn Zeilen ist der Inhalt wunderbar schlicht zusammengefasst: „Beethoven war taub – und doch machte er Musik. Bis in seine letzten Lebensjahre suchte er nach neuen Klängen, erprobte effektvolle Spieltechniken an den Tasten des Klaviers. Denn das Gehör ist nicht die einzige Instanz, Schalleindrücke aufzunehmen (…) Auf diese Vielfalt des Hörens will das Buch aufmerksam machen.“ Na also! War das nun so schwer?
Martin Morgenstern
Omer Meir Wellber ist Erster Gastdirigent der Semperoper in Dresden, Musikdirektor des Teatro Massimo in Palermo, Chefdirigent des BBC Philharmonic in London und regelmäßiger Gast zahlreicher renommierter Klangkörper. Ab 2022 wird er zudem als Musikdirektor der Volksoper Wien das dortige musikalische Geschehen verantworten. – Soeben hat er mit dem BBC-Klangkörper eine CD eingespielt, die schon jetzt als bekenntnishaft gelten darf, denn das Schaffen von Paul Ben-Haim (geboren 1897 als Paul Frankenberger in München, gestorben 1984 in Tel Aviv) bedarf dringend der Wiederentdeckung. „Es ist für mich sehr wichtig, dieses Repertoire aufzunehmen,“ sagt Omer Meir Wellber, „weil Paul Ben-Haim der erste israelische Komponist ist, der erkannt hat, dass man nur durch kulturellen und kreativen Dialog wirklich Frieden auf gewaltfreie Weise erreichen kann.“
Berückend die 1. Sinfonie des Komponisten, das »Pastorale variée« für Klarinette, Streichorchester und Harfe sowie die Ersteinspielung der Sinfonischen Dichtung »Pan«. Neugierige Musikmenschen mit Lust am Entdecken kommen hier voll und ganz auf ihre Kosten.
Von der neuen CD der in Dresden lebenden Sängerin Sarah Maria Sun lässt sich dasselbe behaupten. Sie bietet auf »Killer Instincts« sowohl musikalisches Vergnügen als auch einen Erste-Hilfe-Kurs, um nicht an der Welt zu verzweifeln. Man kann diese Scheibe gar nicht oft genug hören – wegen der musikalischen Raffinesse, der stimmlichen Vielfalt, der mitreißend wechselnden Rhythmen, der intellektuellen Herausforderung sowie vor allem natürlich wegen Sarah Maria Sun & The Gurks. Mit geradezu manipulativer Kraft und höchster Stimmgewalt kommen hier einmal nicht musikalische Opfer, sondern geltungssüchtige Narzissten zu Wort (die sich weltweit gerade wieder sehr breit machen), um durch in grandiosen Interpretationen gehörig entlarvt zu werden. Kurt Weill und Tom Waits, Leonard Bernstein und John Kander, Stephen Sondheim sowie auch Franz Schubert – sie alle haben bizarre Bösewichter gezeichnet, die so wohl noch nie versammelt gewesen sein dürften. Dennoch klingt »Killer Instincts« vergnüglich nach moralischem Aufbau, darf man ganz köstlich über menschliche Abgründe lachen und muss zutiefst darüber erschreckt sein. – Eine Empfehlung im Sinne von Aufklärung und Schwarzem Humor.
Ohne Ludwig van Beethoven wäre Arnold Schönberg nicht denkbar, sagt Christian Thielemann. In seinem Buch »Meine Reise zu Beethoven« macht er diese und so manch weitere These nachvollziehbar. Dieser Reisebericht – Resultat einer langjährigen Beschäftigung mit dem Wiener Meister aus Bonn – liest sich lebendig und ist mit köstlichen Wortschöpfungen gespickt: „Beethoven hat mein gesamtes musikalisches Denken geformt. Weil er mich vor Entscheidungen stellt.“ Entscheidungen zu Interpretationen, die „unbeethovensch“ oder „unschubertisch“ klingen, wo etwas „mozartisch-mendelssohnösen Duft atmet“ oder aber ein „quasi rossinöses Geschehen“ darstellen könnte. Muss man nicht mögen, erhellend ist es aber allemal. Schließlich speist sich Thielemanns Beschäftigung mit dem Leben und vor allem dem Werk Ludwig van Beethovens ganz essentiell: Er sei ihm ein „Grundnahrungsmittel wie Bach oder Mozart“. – Wer Hunger nach mehr hat, sollte hier unbedingt zubei…, äh -greifen.
In Rekordzeit auf den Tonträgermarkt gebracht worden ist das letzte Kapellkonzert vor der im Märzen begonnenen Sommerpause. Schönbergs »Gurrelieder« waren ein Erfolg in der Semperoper und sind es auch in diesem formidablen Mitschnitt. Hohe Klangkultur, ausgewogene Stimmführung bei den Vokalisten sowie in Chor und Orchester – Beethoven würde Schönberg wohl lieben (wenn er ihn denn hören könnte). Eine CD für Kenner, Liebhaber und Neugierige, die sich von wahrer Qualität emotional überzeugen lassen.
Michael Ernst