Das Jahr 2020 hat einige Musikerkarrieren ordentlich durcheinandergewirbelt. Für einen Dirigenten brachte es eine neue Herausforderung: Helmuth Reichel Silva ist seit einigen Monaten der neue künstlerische Leiter des Universitätsorchesters der TU Dresden. Ein sozial distanziertes Gespräch per E-Mail.
Helmuth Reichel Silva, das Jahr 2020 werden viele Musiker aus ihrem Gedächtnis wohl so schnell wie möglich streichen wollen. Für Sie hat es aber eine aufregende berufliche Herausforderung gebracht: Im April wurden Sie zum neuen künstlerischen Leiter des Universitätsorchesters der TU Dresden berufen. Können Sie zuerst einmal Ihren Werdegang bis hierher nach Dresden schildern?
Ich hatte das Glück, direkt nach meinem Schulabschluss in Chile nach Deutschland zu kommen, um Musik zu studieren, zunächst Violine und danach Orchesterleitung. Direkt nach meinem Violinstudium durfte ich wertvolle Erfahrung als Orchestermusiker sammeln, sowohl in einem Symphonieorchester als auch an einem Opernhaus, dabei hat mich die Arbeit mit tollen Dirigenten sehr geprägt, insbesondere mit Jonathan Nott und Mariss Jansons, von denen ich besonders viel für meine spätere Laufbahn als Dirigent mitgenommen habe. In dieser Zeit habe ich sehr viel gelernt, wie ein Orchester agiert und funktioniert, das hat mir sehr geholfen, die Rolle eines Dirigenten besser zu verstehen. Während den letzten Jahren habe ich nicht nur mit tollen professionellen Orchestern, sondern auch mit Jugend- und Laienorchestern arbeiten dürfen – der Weg hat mich nun glücklicherweise nach Dresden geführt.
Die Konkurrenz um die Nachfolge Filip Paluchowskis war hart, glaubt man den Stimmen aus dem Orchester. Wie haben Sie die Probedirigate erlebt, wie war Ihr erster Eindruck vom Orchester? Und wann haben Sie erfahren, dass Sie die Stelle haben?
Das Orchester hat etwas, das mich sofort begeistert hat, und das ist seine Offenheit. Ich habe tatsächlich sofort gespürt, dass wir uns sowohl musikalisch als auch menschlich gut verstehen können, und das ist wichtig, damit die zukünftige Zusammenarbeit für beide Seiten bereichernd ist. Die Freude am Musizieren und die Neugier sind für mich essenziell. Die Entscheidung des Orchesters habe ich mit Freude wenige Tage danach erfahren.
Das Universitätsorchester wird 2021 sechzig Jahre alt. Da wird es sicherlich ein großes Festkonzert geben? Mit Ankündigungen müssen wir ja nun demütig sein, aber schildern Sie doch bitte, was für das Jubiläum geplant war und noch geplant ist.
Es sind mehrere Aktivitäten geplant, vor allem ein Jubiläumskonzert für Juli 2021 im Kulturpalast. Auf dem Programm stehen Bela Bartoks Tanzsuite, Bernsteins Symphonische Tänze aus West Side Stories und Dvoraks 8. Sinfonie, alle Werke, die die Fröhlichkeit und festliche Stimmung unserer Feierlichkeiten unterstreichen. Dazu möchten wir u.a. die Geschichte des Orchesters und die Erinnerungen von diesen 60 Jahren durch eine sehr schöne Ausstellung der Öffentlichkeit präsentieren.
Eine Frage, die vielleicht etwas heikel ist, und die Sie mir hoffentlich nicht übelnehmen: ein Laienorchester zu leiten, gilt nicht für alle Dirigentinnen und Dirigenten auf ihrer Karriereleiter als attraktives Ziel. Warum haben Sie sich trotzdem bewusst dafür entschieden? Und welche Reize bietet die Stelle vielleicht im Vergleich zur Leitung eines Profiorchesters, zum Beispiel im Hinblick auf die Motivation der Musikerinnen und Musiker? Oder ist das ein Klischee?
Mein Ziel ist eigentlich sehr simpel: ich möchte Musik machen. Dabei ist es für mich nicht entscheidend, ob es sich um ein professionelles oder Laienorchester handelt – mir ist es wichtig, dass wir alle als Gruppe zusammen für die Musik brennen, dass wir den Wunsch haben, die Botschaft eines Werkes dem Publikum so klar und intensiv wie möglich rüberzubringen. Das ist es, was mich motiviert und glücklich macht, und ich bin jedes Mal sehr dankbar, wenn ich dieses Glück mit einem Orchester erleben darf, ob mit Laien oder Berufsmusikern. Die Arbeitsweise ist zwar unterschiedlich zwischen professionellen und Laienorchestern, das Ziel ist musikalisch aber gleich – wobei die Offenheit und Neugier bei Laienorchestern besonders groß und erfrischend ist. Ich glaube, wenn man einen sinnvollen gemeinsamen Weg für die Musik findet, die gespielt wird, ist die Motivation immer da, egal wie oft sie bereits gespielt wurde – deswegen glaube ich nicht wirklich an dieses Klischee, dass professionelle Orchester immer nur ‚routiniert‘ musizieren würden, das kann ich nicht bestätigen!
Die letzten Chefdirigenten (und eine Chefdirigentin) haben dem Orchester jeweils einen prägnanten stilistischen Stempel aufgedrückt. Wie wird das Orchester zukünftig klingen, und welches Repertoire haben Sie vor zu studieren?
Das wichtigste für mich ist das Gefühl, dass wir als Orchester Kammermusik machen – das heißt aufeinander hören, füreinander spielen und gemeinsam die Musik erleben. Klanglich ist mir die unmittelbare Expressivität in dem Klang eines Orchesters enorm wichtig, ebenso wie die Intensität der Klangfarben. Oder vielleicht anders gesagt, ich suche immer das Feuer und die Ehrlichkeit in dem Klang! Vielleicht deswegen reizt mich vor allem solches Repertoire, das viele Klangfarben oder starke innere Botschaften darstellen kann. Das gibt es zum Glück in allen Epochen, und wir werden das Repertoire des Orchesters weiterhin erweitern, insbesonders mit Werken des XX. und XXI. Jahrhundert. Mir ist es generell auch sehr wichtig, Musik aus Lateinamerika hier in Europa aufzuführen – nicht nur die „Hits“ wie „Estancias“ oder „Danzon“, sondern auch wunderbare Werke, die eher unbekannt sind. Ich persönlich liebe viel zu viele Komponisten (!), als dass ich mich für bestimmte entscheiden könnte, aber um ein paar zu nennen, das sind Bartok, Strawinsky, Ravel, Debussy, Ginastera, Copland, Villa-Lobos, Mahler, Webern, Boulez, Rihm, Widmann und Lachenmann. Die Liste ist eigentlich zu lang, da fehlen noch Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Schumann, Brahms, … es ist wirklich nicht möglich, alle zu nennen!
Werden Sie versuchen, das Orchester aus seinem Universitätskontext heraus deutlicher in die Kulturstadt Dresden hinein wirken zu lassen, oder sollte das Orchester vor allem für die Uni, ihre Studenten und Mitarbeiter da sein?
Für die Universität und seine Umfeld auf jeden Fall, aber darüber hinaus fände ich es wichtig, dass wir uns stärker im kulturellen Leben Dresdens positionieren. Wenn die Bedingungen es erlauben, möchte ich unbedingt regelmäßig mit Schulklassen aus Dresden zusammenarbeiten, ebenfalls ist mir die Ausbildung von Dirigenten sehr wichtig. Seit einigen Jahren arbeite ich als Gastprofessor an der Fundación de Orquestas Juveniles in meiner Heimatstadt Santiago in Chile, dort bin ich als Dozent für Orchesterleitung an der Ausbildung von Dirigenten beteiligt, die später Jugend- und professionelle Orchester in Chile leiten werden. Ich würde sehr gerne in einem kleineren Rahmen diese Aktivitäten mit dem Universitätsorchester in Dresden anbieten, sodass auch junge Studenten in Dresden regelmäßig an Workshops mit uns teilnehmen können. Wir freuen uns natürlich auch sehr, wenn die Zeiten uns wieder Konzertreisen erlauben!
Die Chilenen sind direkt aus dem letzten Lockdown gegen die rechtskonservative Regierung und für eine neue Landesverfassung auf die Straße gegangen. Sind Sie eigentlich demnächst wieder in Chile zu Gast, etwa beim Nationalorchester? Und was können sich Dresdner Kulturbürger von den Santiagoern vielleicht noch abschauen?
Die Probleme, die die chilenische Gesellschaft im Moment spalten, haben ihre Herkunft tief im 19. Jahrhundert. Spätestens nach der Diktatur der 70er Jahre sind diese Differenzen zu einem Höhepunkt gelangt. Seit Oktober 2019 gibt es in Chile Proteste und Forderungen, die aktuelle Verfassung zu ändern, damit größere Reformen im Land juristisch möglich werden. Es war ein schwieriges Jahr in Chile, auch wegen der Pandemie. Aber ich glaube, alle Chilenen möchten ein besseres Land haben, und das ist gut so. Ich vermisse es sehr, mit dem Nationalen Symphonieorchester und anderen Klangkörpern des Landes zusammenzuarbeiten. Das werden wir aber nachholen, sobald sich die Lage verbessert hat. Was sich die Dresdner Kulturbürger von den Santiagoern abschauen könnten? Wir Chilenen sind mutig und stecken zu vierhundert Prozent hinter dem, woran wir glauben! Ich glaube, auf diese Art und Weise kann man wirklich alles erreichen.
Vielen Dank für das Gespräch.