Rudolf Mauersberger hat den Dresdner Kreuzchor mehr als vier Jahrzehnte lang geprägt wie niemand sonst. Am 22. Februar 1971 ist der Kantor und Komponist gestorben.
Ihn heute als Legende zu bezeichnen, ist gewiss keine Übertreibung. Der Ende Januar 1889 im erzgebirgischen Mauersberg geborene Kantorensohn Rudolf Mauersberger leitete den Dresdner Kreuzchor über mehr als vier Jahrzehnte und stellte sich auch in den schwierigsten Zeiten der Nazi-Herrschaft schützend vor die singenden Knaben. Bei seinem Tod am 22. Februar 1971 herrschte – nicht nur im Chor und nicht nur in Dresden – größte Betroffenheit. Theo Adam und Peter Schreier drückten das so aus: „Der Kreuzchor hat seinen Vater verloren.“
Dass sich dieser legendäre Kantor auch als Komponist tief in die Geschichte eingeschrieben hat, liegt wohl vor allem an seiner bereits im August 1945 uraufgeführten Motette »Wie liegt die Stadt so wüst«, die später Mauersbergers »Dresdner Requiem« beigeordnet worden ist. Gewidmet ist diese Musik dem Gedenken an Dresdens Zerstörung im Februar 1945, doch sie hat längst einen festen Platz in Gedenkkonzerten und auch anderswo gefunden.
Der Dresdner Musikwissenschaftler Matthias Herrmann hat sich ausgiebig mit Leben und Werk von Rudolf Mauersberger beschäftigt und sieht in ihm ehrfurchtsvoll „den prägenden Kreuzkantor des 20. Jahrhunderts.“ Dies hänge einerseits mit dem über mehr als vierzig Jahre währenden Kantorat zusammen, aber eben auch mit den schwierigen Zeitumständen, in denen Mauersberger sein Amt bekleidet hat. „NS-Zeit, Zerstörung, Wiederaufbau, DDR-Zeit – Rudolf Mauersberger hat lebenslang auf eine eigene Familie verzichtet, der Kreuzchor war sein Lebensmittelpunkt. Und er hat für die Chorarbeit bis zum heutigen Tage wichtige Weichenstellungen, wichtige Strukturen geschafft. Insofern wirkt sein Werk immer noch weiter.“
Matthias Herrmann hat den Kreuzkantor, der sich gern auch mal selbstironisch als „Kreuz- und Querkantor“ bezeichnet haben soll, bereits in jungen Jahren kennengelernt, in sehr jungen Jahren: „Ich war neun Jahre alt, da tauchte er plötzlich 1965 bei meinen Eltern auf. Also bei meinen zwei Brüdern und mir, denn er war auf Werbetour für neue Kruzianer. Meinen mittleren Bruder hat er gleich ‚eingekauft’, er kam im nächsten September nach Dresden, ich selbst dann ein Jahr später.“
Das Vermächtnis Mauersbergers hat den 1993 als Professor an Dresdens Musikhochschule berufenen Wissenschaftler nie wieder losgelassen. Noch heute forscht Matthias Herrmann über den Kantor, der stets als gestrenger Lehrmeister galt: „Er war ein sehr strenger Pädagoge alter Mensur, er ist ja am Annaberger Seminar vor 1900 ausgebildet worden, da herrschte Strenge. Das hat er ein Leben lang beibehalten, das war die eine Seite. Aber die andere Seite war eben die Liebe zur Sache, die Liebe zu den Kindern, die Liebe zur Musik an sich – und das ist stets eine wunderbare Brücke gewesen.“
Über so manche Brücke, auch über schaurige Abgründe hinweg, musste Mauersberger dann wohl auch selbst gehen. Aus politischen Gründen vor allem in den Jahren der Nazi-Diktatur. „Ich bin im Nachlass seiner jüngsten Schwester in Wien vor einiger Zeit auf bisher unbekannte Dokumente gestoßen“, erzählt Matthias Herrmann. „Das sind unter anderem Dokumente zum Dritten Reich. Offenbar hat er diese wenigen Briefe vor 1945 ausgelagert, denn seine Wohnung ist ja abgebrannt, genauso wie die Kreuzschule. Und von daher waren ihm das offenbar wichtige Zeugnisse, dass er sich eingesetzt hat.“ Etwa für den jüdischen Komponisten Günter Raphael, dessen Musik noch 1938 in Dresden erklang, von Rudolf Mauersberger uraufgeführt und sogar auf Tourneen in die USA mitgenommen wurde.
Matthias Herrmann blättert in seinen Fundstücken und wagt als Resümee seiner Forschung: „Es fügt sich Steinchen um Steinchen wie zu einem Mosaik. Einerseits ist Mauersberger merkwürdigerweise im Mai 1933 in die NSDAP gegangen, offenbar gemeinsam mit anderen Lehrerkollegen am Kreuzgymnasium. Aber in Briefen bezeichnet er sich als politisch naiv. Ich denke, er war so wie viele deutsch national eingestellt.“
Mit dieser Haltung dürfte Rudolf Mauersberger in die zwölf dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte hineingewachsen sein, hat aber vielleicht gerade dadurch das Leuchten des Chores bewahren können. Auf diese Weise mag er einen gewissen Ausgleich zwischen der gesellschaftlichen Realität in der braunen Diktatur und dem permanent weiter gepflegten wöchentlichen Singen in der Kreuzkirche geschaffen haben. Nicht zuletzt deswegen konnten konnten Chor und Kantor nach Kriegsende ihre Arbeit rasch wieder fortsetzen, mutmaßt Matthias Herrmann: „Das ging ja erst mal ideologiefrei los. Aber dann hat die junge DDR in zunehmendem Maße von sich reden gemacht, da hatte er sehr schwierige Situationen zu bestehen. Da aber seine Reputation deutlich gewachsen war, schließlich zählte er zu den frühen Nationalpreisträgern der DDR, konnte er auch immer mal wieder, wie es so schön heißt, auf den Tisch hauen. Das hat er sehr häufig getan.“
Was bleiben wird von diesem die jüngere Kruzianer-Geschichte prägenden „Kreuz- und Querkantor“, das ist die Musik. Davon ist auch Matthias Herrmann überzeugt: „Das eigentliche Komponieren begann er erst in den frühen 1940er Jahren. Das hing offenbar mit der äußeren Bedrängnis zusammen. Er hat sich wohl vieles von der Seele geschrieben, was man also durchaus auch biografisch bewerten kann. Die Motette »Wie liegt die Stadt so wüst« ist im Grunde Ausdruck der tiefsten Trauer über all das Verlorene.“
Lesenswert: Matthias Herrmann »Kreuzkantor zu Dresden – Rudolf Mauersberger«. Band 1 der Schriften des Mauersberger-Museums in Mauersberg (2004)