Ein Jazzfreund rief mich an. Eines jener Exemplare, die normalerweise jeden Fakt zu Platten, CDs, Konzerten oder Besetzungslisten sofort wie aus der Pistole geschossen nennen können. »Sag mal«, so der Anrufer, »kann es sein, dass Sun Ra irgendwann mal im Dresdner Jazzclub Tonne gespielt hat?« Er, der normalerweise jedes interessante Konzert in Dresden, Leipzig oder Berlin besucht hatte, halte das für unwahrscheinlich, denn daran würde er sich erinnern. Aber sicherheitshalber wolle er dennoch mal nachfragen.
In meinem Kopf ratterten die Gedanken. Ich selbst war bei dem Konzert dabei, hatte noch das Bild des im Rollstuhl sitzenden Sun Ra im Kopf. Aber wann war das? Ich warf die Suche-Funktion auf der Webseite der Tonne an. Nix! Die Konzerte waren erst seit etwa 2002 in die online-Datenbank eingepflegt. Also unters Dach ins Privatarchiv gekrochen, die staubigen Monatsprogramm-Flyer der Jahre 1987 bis 2002 durchgesehen, sechzehn Jahrgänge, also etwa 190 Programmflyer. Kein Sun Ra.
Dafür hatte ich lediglich zwei Erklärungen: Entweder ich war bereits völlig verblödet oder das Konzert musste sehr kurzfristig gebucht worden sein, so dass es nicht in einem Monatsprogramm-Flyer enthalten sein konnte. Diese Erklärung war mir lieber – und ich rief einen namhaften Jazzfotografen an. »Ja, Sun Ra hat in der Tonne gespielt«, machte der Fotograf mir Hoffnung. Es könnte im Frühjahr oder Sommer 1992 gewesen sein. In seiner Excel-Tabelle sei ein solches Konzert nicht enthalten. Aber es müsse natürlich stattgefunden haben, denn er hätte ja Fotos gemacht, die er am Abend heraussuchen wolle. Kurz darauf, der Fotograf hatte nun offenbar Blut geleckt und die Sache wichtiger genommen als seine aktuelle eigentliche Arbeit, landeten bei mir fünf Fotos des damaligen Sun-Ra-Tonne-Auftritts in meinem E-Mail-Postfach. Hurra!
Aber wann war nun das Konzert? Die Fotos, noch nicht digital, waren nicht datiert, aber in das Jahr 1992 eingeordnet. Vorausschauend hatte der Fotograf die 1992er Tourlisten Sun Ras im Internet gesucht und gefunden (was schon nicht selbstverständlich ist). Dort war ebenfalls kein Sun-Ra-Konzert in Dresden verzeichnet, aber eins am 26. März 1992 in Saarbrücken und eins am 31. März 1992 in München. Vielleicht fand das Dresdner Ereignis an einem freien Tag dazwischen statt?
Unterdessen hatte ich ein früheres, damals aktives Tonne-Mitglied wieder ausfindig gemacht. Dieser Jazzfreund bestätigte mir, dass der Konzerttermin sehr kurzfristig zustande gekommen war, er selbst hatte an jenem Tag Abenddienst, deswegen wisse er das! Aber an das genaue Datum könne er sich, immerhin fast dreißig Jahre später, nicht mehr erinnern.
Nun begann das Kombinieren. Welche Termine blieben überhaupt für das Sun-Ra-Konzert übrig? Für Saarbrücken und München waren der 26. und 31. März besetzt, die Tonne hatte am 27. März Walter Norris und am 28. März Franz Dannenbauers »Musik Liberation Unit« zu Gast. Sun Ra konnte also nur am 29. oder 30. März 1992 in der Dresdner Tonne aufgetreten sein. Wer von den Lesern es noch genauer weiß, möge sich bitte melden!
Der eingangs erwähnte Jazzfreund ist nun beruhigt. Und der Fotograf schrieb mir zum Abschluss dieser Termin- und Faktensuche erleichtert und leicht ironisch: »Jazzarchäologie – das hat Zukunft!« Ohne seine Hilfe wäre diese Sun-Ra-Show in der Jazz- und Tonne-Geschichte nichtexistent geblieben. Ein Jazzfotograf ist eben nicht nur Bildkünstler, sondern auch Bewahrer im Bemühen gegen grassierende Geschichtslosigkeit. In diesem Fall heißt der gute Geist einmal mehr – Matthias Creutziger.