Alle Jahre wieder: Kalender. Der Blick nach vorn, um die nächsten zwölf Monate zu planen. Dabei lernen wir gerade, dass nur sehr wenig zu planen ist. Es gibt zwar Träume und Wünsche, gewiss, was aber davon in Erfüllung gehen mag, können die schönsten Kalendarien nicht prognostizieren. Das tägliche Horoskop in der Zeitung schon gleich gar nicht. Solch vergeudete Plätze sollten wohl besser echten Inhalten dienen.
Ein guter Kalender hingegen kennt keinen vergeudeten Platz. Er kann gar nicht groß genug sein, um zum Blickfang zu werden; sei es im Wohnraum oder am Arbeitsplatz, sei es im Korridor oder im Bad. Ein guter Kalender kann weit mehr, als nur die Tage, Wochen und Monate zu strukturieren. Er lässt auch innehalten, zurückblicken sogar, um vielleicht umso beschwingter die bevorstehende (verbleibende?) Zeit sinnvoll zu nutzen.
Ein Kalender, der »SEHSUCHT« heißt, passt somit ideal in unsere heutige Zeit. Die nämlich scheint weniger denn je planbar zu sein, seit gut einem Jahr weiß so ziemlich die gesamte Menschheit nicht mehr, was der kommende Tag bringen mag. Von nächsten Jahreszeiten zu schweigen. Die Sucht nach Sehen, das Sehnen nach Erkennen und Erkenntnis sollten uns aber bleiben.
Deshalb auch werden Kalender produziert, wird nach vorn geschaut, derzeit vielleicht sogar mehr denn je. Denn wer sich der Endlichkeit des Lebens bewusst ist, wird die verbleibende Zeit womöglich sinnvoller zu nutzen versuchen. So halten es auch – und zwar nicht erst seit pandemischen Zeiten – der Dresdner Fotograf Matthias Creutziger sowie der Grafiker Thomas Walther und Ulrich Thieme von der Druckerei Thieme Meißen. Jahr um Jahr gestalten sie aufwändige Kalendarien – »¿Qué bolá Cuba«, »Inside Souks« sowie »MACROPOLIS – die Zeit existiert nicht« – und ernteten dafür immer wieder begehrte Auszeichnungen wie den Gregor Calendar Award in Gold sowie den Grand Prix. Auch 2021 zählen sie wieder zu den Preisträgern.
Das vierte Mal in Folge könnte geradezu skeptisch stimmen, schließlich gibt es derartige Ehrungen nicht im Abonnement. Doch nichts daran ist faul, alles ist mit rechten Dingen zugegangen. Zumal sich das kreative Trio diesmal mit dem Gregor Calendar Award in Silber zufrieden geben musste, was den Beteiligten ganz gewiss nicht schwergefallen sein dürfte, denn immerhin ernteten sie erneut einen höchst begehrten Preis für ihr Herzensprojekt.
Wie das bei Schauobjekten so ist, sind die Kalendarien ein Blickfang für das verbleibende Jahr, ein Menetekel für die verrinnende Zeit.
Lebenszeit
In aller Regel jedoch ist damit kein Zurück-Blicken verbunden, sondern ein Innehalten und Konstatieren, möglicherweise auch ein Um-Planen und Über-Denken. In diesem Fall ist von der „Begierde Sehsucht“ die Rede, gibt es reichlich Text zu besinnlichen Bildern. Kaum erklärende Zeilen, sondern Worte mit Fragezeichen. Wie auch die elf (!) Frauenköpfe auf den zwölf Monatsblättern uns eher fragend ansehen: „Wo ist das Problem, Josefine?“ Und: „Wieso hast du mich nicht gefragt, Klara?“
Nur selten braucht es dazu aber ausdrücklich ein Fragezeichen: „Gut, meinte Monika, dann hätte ich aber gewusst, was dich …“ – „Ich sagte nichts. Thekla schlug die Augen nieder und …“
Sowohl diese oft in der Schwebe bleibenden Worte sind es als auch die intensive Bildsprache, womit dieser Kalender in seinen Bann zieht. Matthias Creutziger hat historische Schaufensterpuppen nicht fotografiert, sondern regelrecht porträtiert, ins Bild gesetzt, zu Persönlichkeiten hochstilisiert. „Norma blieb unnachgiebig und sagte dann …“ macht die kalt blickende Plastik zur Phantasmagorie. Henriette fragt lasziv in den Herbst: „Wirklich, kommst du mit?“ Gegen Ende des Jahres gibt es dann eine Vakanz: „Bevor Zazie antwortete, dachte sie nach, bis …“
Die unvollständigen Sätze kann man sich von Monat zu Monat anders beenden – oder sie einfach so offen lassen, neu öffnen, sie belächeln sowie mit den Puppenköpfen ins Zwiegespräch gehen. Was da an der Wand hängt, scheint eine sehr persönlich geratene Herausforderung zu sein.
Und auch der Jurykommentar geriet in diesem Jahr ziemlich persönlich: „Seit einem Jahr sind wir hinter der Maske und in einer weltweiten Pandemie gefangen. Da ist die Sehnsucht nach Normalität, nach Leben und Erleben, nach Begegnungen groß. (…) Die rätselhaften, magischen Blicke der Puppenköpfe auf zwölf Kalenderblättern werden ergänzt durch Halbsätze, die Betrachtende beenden können. Begierde und Sehnsucht, Vertrauen, Misstrauen, Offenheit oder Maskerade? – Zwiegespräche mit Hanna, Klara, Lissy, Henriette oder Josefine. Aus der Rückpappe kann eine Gesichtsmaske entnommen werden, um das Wesen dahinter zu ergründen.
Blatt zwei des Kalenders mit dem Vorwort wurde auf stark saugfähiges Sarg-Einlage-Papier gedruckt. Seine Verwendung fand der Bedruckstoff aufgrund des Schicksals des Fotografen, der im Frühjahr 2020 schwer an Covid 19 erkrankt, sechs Wochen lang künstlich beatmet und dreimal wiederbelebt werden musste. Matthias Creutziger hat knapp überlebt, kam nicht auf dem Papier zu liegen und hat es stattdessen als Zeichen der Gegenwehr und Hoffnung im Kalender verarbeitet.
Matthias Creutziger, Ulrich Thieme und Thomas Walther ist einmal mehr gelungen, der Jury ein durchdachtes Kalender-Konzept vorzulegen.“