Text: Tobias Schick / Foto: Beate Olbrisch
Viermal wurde das für März 2020 geplante Eröffnungskonzert der Reihe „Mensch und Technik“ von KlangNetz Dresden coronabedingt verschoben, nun bildete es am 5. Juli 2021 deren Abschluss. „Sinfonietta Dresden“ spielte unter der Leitung des französischen Dirigenten Bruno Ferrandis Werke von Franz Martin Olbrisch, Sol-i So und Edgar Varèse. Zu dem Reiz der Konzertreihe, auf die gleichzeitige Sonderausstellung des Deutschen Hygiene-Museums als Kooperationspartner der Reihe zu reagieren und deren Thema musikalisch zu reflektieren, trat im Fall des mit „Interface / Schnittstelle“ überschriebenen Konzerts die Fokussierung auf das Oeuvre eines Komponisten. So war Franz Martin Olbrisch, ehemaliger Professor für elektronische Musik an der Dresdner Musikhochschule, nicht nur mit zwei Werken im Konzert vertreten, sondern hatte auch entscheidenden Anteil an der überaus schlüssigen Programmkonzeption, die drei jüngere Werke (darunter zwei Uraufführungen) Edgar Varèses »Déserts« (1950-54), einem viel zu selten gespielten „Klassiker“ der Neuen Musik gegenüberstellte. Begonnen wurde mit Olbrischs Werk »rewrite 114« für großes Ensemble und Live-Elektronik aus dem Jahr 2017. Der Text, den diese Komposition um- bzw. neu schreibt, ist der langsame Satz aus Johannes Brahms‘ Klarinettentrio op. 114. Doch wird nicht nur dessen linearer Verlauf zeitlich gedehnt und durch Umstellungen aufgebrochen, sondern seine Tonhöhenstruktur wird durch Frequenz-Shifting so transformiert, dass die terzensatte Klanglichkeit des späten Brahms bis zur Unkenntlichkeit verändert wird. Im Vordergrund steht also kaum das stilistische oder expressive Spannungsfeld zwischen Original und Bearbeitung, sondern Brahms‘ Klarinettentrio dient vielmehr als strukturelle Vorlage, die zum Sprungbrett für ein neues Werk wird, das diese hinter sich lässt. »rewrite 114« folgt dem Prinzip eines algorithmischen Komponierens, das seine Parameter aus existierenden Vorlagen gewinnt. In seinem Verfahren ähnelt es früheren Werken Olbrischs wie »Grain« für großes Orchester (2005), das seine Strukturen aus dem Klang einer fallenden Coladose in einem Getränkeautomaten gewann. Entstanden ist durch die Transformation eine äußerst präzise durchgestaltete Klanglandschaft aus zerbrechlichen, langsam changierenden Klangflächen, die von mikroharmonischen Figuren, sachten Impulsketten und einzelnen Ausbrüchen durchsetzt sind. Verfeinert wurde die inharmonisch-gebrochene Klangwelt durch die live-elektronische Verfremdung einiger Instrumente, deren Tonhöhen durch Pitch- und Frequenz-Shifting ein zweites Mal transformiert wurden.
Nach dieser beeindruckenden Eröffnung folgte der Orchestererstling »RESPOND RESPOND respond« der jungen koreanischen Komponistin Sol-i So, Absolventin der Dresdner Hochschule und als solche ehemalige Schülerin Olbrischs. Als Schnittstelle ihrer Komposition fasst sie die einzelne Musikerin auf, an die sich die im Titel eindringlich formulierte Bitte richtet, auf die vorangegangenen Ereignisse zu reagieren. »RESPOND« war mehrheitlich geprägt von changierenden Einzeltönen, die dem ganzheitlichen Klangideal traditioneller koreanischer Musik abgeleitet sind, deren glissandierende Umspielungen aber auch stark an die Musik Giacinto Scelsis erinnerten. Gerade am Anfang des sich allmählich verdichteten Werkes ließ die Abfolge einzelner Klänge die individuelle Klangfarbe einzelner Instrumente plastisch hervortreten, was aufgrund der Vereinzelung aber bisweilen auch etwas unbeholfen wirkte. Später traten die changierenden Einzeltöne in einen reizvollen Dialog mit genau komponierten Raschelgeräuschen, die im Konzert allerdings etwas zu sehr verstärkt waren.
Danach folgte mit »… suggests that something may be« von Franz Martin Olbrisch die zweite Uraufführung des Abends. Trotz der Kombination von Orchester, Zuspielung und Live-Elektronik hob Olbrisch weniger auf den Aspekt von technischen Apparaturen und Digitalisierung ab, sondern fokussierte auf die Bedeutung von Technik als Kunstfertigkeit, was in diesem Fall insbesondere Spiel- und Kompositionstechnik meinte. Die 17 Abschnitte der Komposition bestanden aus Pastiches von Werken der Neuen Musik, in denen bestimmte Kompositionstechniken paradigmatisch ausgeprägt sind. »Le Marteau sans maître« von Pierre Boulez kam darin genauso vor wie über von Mark Andre, Weberns Symphonie op. 21 genauso wie »Generation Kill« von Stefan Prins. Dass das Werk nicht in ein buntes Potpourri zerfiel, lag daran, dass die zitierten Stilistiken von Olbrischs persönlicher Schreibweise (etwa der konsequenten Verwendung von Mikrotonalität sowie einer präzise ausgehörten Instrumentation) überformt wurden. So entstand eine eigentümliche Mélange einer offenen Einheit mit unterschiedlich deutlichen Anklängen an anderes. Zugleich zeigte Olbrischs Konzept aber auch, dass der Mensch die erste Schnittstelle ist, die zwischen unterschiedlichen Systemen übersetzt.
Nach der Pause folgte mit Déserts (1950-54) von Edgar Varèse ein Klassiker der Neuen Musik, dessen instrumentale Partien (wie häufig bei Varèse ohne Streicher) wenig von ihrer Kraft verloren haben, während die schematischen Wechsel zwischen Orchester und Elektronik aber doch etwas zeitgebunden wirkten. Auch der Zuspielung selbst merkte man ihr Alter an, und zwar sowohl den synthetischen, als auch den aufgenommenen Orchesterklängen, deren Aufnahmequalität im Vergleich zu den live gespielten Partien doch recht staubig wirkte. Nicht nur aufgrund der Kombination von akustischer und elektronischer Klangerzeugung waren die Beziehungen zur ersten Programmhälfte aber höchst sinnfällig, sondern die Musik von Varèse und Olbrisch entwickelte trotz aller Unterschiede gerade aufgrund einer distanzierten, konstruktivistischen Arbeitsweise eine eigentümliche expressive Kraft.
Die zahlreichen Konzertbesucher erlebten also einen stringent komponierten Konzertabend mit packenden und durchaus herausfordernden Werken, die unter der klugen und umsichtigen Leitung von Bruno Ferrandis engagiert und größtenteils präzise dargeboten wurden. Dass der Dirigent, der sich schon in die Garderobe zurückgezogen hatte, nach langanhaltendem Beifall nochmals eigens geholt werden musste, zeigte die Begeisterung des Publikums. Ein Glück, dass sich „Sinfonietta Dresden“ und sein künstlerischer Leiter Olaf Georgi einem solch eindringlichen Programm angenommen hat.