„Ich gehöre einer Generation an, die sich einem extremen Idealismus verschrieben hatte. Mein ganzes Leben war ein endloser Kampf zwischen dem Idealischen und dem Wirklichen, dem Alltäglichen und der Vision“
Vielleicht verbirgt sich in diesem Zitat des Komponisten Mikis Theodorakis – zu finden bei Roger Willemsen: Gute Tage, Fischer, Frankfurt 2006 – der Kern seiner Biografie und seiner gesamten Musik, die sich in sieben Sinfonien, Konzerten, mindestens acht Kantaten und Oratorien, vielen Filmmusiken, mehreren Opern, Werken für das Theater und einer unüberblickbaren Fülle von Liedern und Kammermusik entfaltet.
Wenn von Theodorakis die Rede ist, steht zunächst gern der Widerstandskämpfer, der Volksheld und Politiker im Vordergrund, zumeist links verortet und mit Sympathien nicht nur für den Freiheitskampf seines eigenen Volkes, sondern auch den in Chile, Kuba oder Venezuela. In seinem Œuvre finden sich deshalb auch Hymnen für Nasser, die PLO, die Sozialistische Partei Frankreichs oder die sozialistische Bewegung Venezuelas. Aus diesem Engagement entstand an vielen Stellen auch Kritik an seinem Wirken, seinen Statements und nicht zuletzt auch an der Ästhetik seiner Musik.
Vergessen wird dabei, dass Theodorakis dieses Engagement immer mit einem hohen persönlichen Preis bezahlt hat. Bereits unter den Nazis wurde er mit 18 Jahren erstmals gefangen genommen und gefoltert. Aber der junge Mann ließ sich nicht einschüchtern und setzte in der Zeit des Bürgerkriegs seinen Widerstand fort. Zwischen 1947 und 1949 war er zum zweiten Mal schwersten Misshandlungen ausgesetzt und wurde von einem Konzentrationslager ins nächste verbracht, noch ehe eine wirkliche musikalische Ausbildung, Karriere oder Entwicklung stattfinden konnte.
Zu einer solchen war erst in Paris Zeit (1954–59) und Gelegenheit. Dass hier wie bei erfolgreichen internationalen Kompositions-Wettbewerben die Namen Olivier Messiaen, Dmitri Schostakowitsch, Hanns Eisler und Dimitri Mitropoulus für den jungen Komponisten eine prägende Rolle als Lehrer und Förderer spielten, sollte nicht vergessen werden und ist für den weiteren Weg von zentraler Bedeutung.
Dieser führte zunächst nach Athen, wo er in den sechziger Jahren zu einer Leitfigur der kulturellen und auch bildungspolitischen Erneuerung Griechenlands wurde und in der Auseinandersetzung neuen Anfeindungen ausgesetzt war. In diese Schaffensphase fällt das berühmte und auch in Dresden mehrfach aufgeführte Oratorium »Axion Esti«. Unter der faschistischen Diktatur 1967–70 geriet er abermals in Gefangenschaft, wurde ein drittes Mal verbannt und wiederum gefoltert. Seine internationale Bekanntheit jedoch war inzwischen so hoch, dass Leonard Bernstein, Dmitri Schostakowitsch, Harry Belafonte und andere sich für ihn einsetzten und tatsächlich eine Freilassung ins Exil nach Frankreich erreicht wurde.
Zwar war danach die Zeit der Gefangenschaften und Folterungen beendet, nicht aber die des politischen Engagements, das er nach 1974 in vielerlei Funktion und Schattierung wahrnahm – nicht selten auch im Konflikt zu seinen linken Freunden und Wurzeln. An Aufrichtigkeit hat es Mikis Theodorakis nie gefehlt; die Grenzen des Marxismus hatte er inzwischen zur Genüge kennengelernt, an den Idealen der Freiheit jedoch immer festgehalten.
In Dresden hat Peter Zacher eine große Aktie daran, dass »Axion Esti«, die 7. Sinfonie, die »Liturgie Nr. 2« und später auch der »Canto General« aufgeführt wurden. Gemeinsam mit Asteris Kutulas – griechischer Schüler der Kreuzschule, Freund Zachers und enger Vertrauter des Komponisten – kamen die Partituren zu Christian Hauschild, dem damaligen Leiter des Beethovenchores. Dort begann auch meine persönliche Geschichte mit dieser Musik, die eher einen Weg des Lernens als eine sofortige Begeisterung beschreibt. Bei der Einstudierung von »AXION ESTI« 1982 (Beethovenchor, Christian Hauschild) war ich als Assistent dabei. Als Student mit Ambitionen zu ganz anderer zeitgenössischer Musik allerdings hatte ich zunächst eine gewisse Distanz zu Theodorakis. Der Landsmann Iannis Xenakis mit seinen orchestralen Explosionen, seinen architektonisch und mathematisch strukturierten Klängen war von den beiden berühmten Griechen der für mich weitaus Interessantere – Widerstandskämpfer auch er! Theodorakis war mir zu schlicht, zu volkstümlich. Zudem wurde er von der damaligen SED-Führung teilweise vereinnahmt (u. a. zum »Festival des politischen Liedes«), was ihn mir verdächtig machte.
Erst im Laufe der Jahrzehnte habe ich mehr von dem begriffen, was hinter dieser Musik steht. Bei der Vorbereitung zum »Canto General« fiel mir auf, wie wenig von den existenziellen Kämpfen des 20. Jahrhunderts der jüngeren Generation bekannt ist und welche Spuren diese Auseinandersetzungen in der Kunst hinterlassen haben. In den Proben mit der Singakademie habe ich viel erzählen müssen davon, wie sehr auch die DDR geprägt war vom Schicksal Allendes, Corvalans und vor allem Nerudas.
Die Daten, Namen und Ereignisse im Zusammenhang mit den Diktaturen in Griechenland, Chile, in ganz Lateinamerika und an vielen anderen Orten der Welt und die atemberaubende Kunst, die in diesem Kontext entstanden ist, sind weit in die Vergangenheit gerückt. Mit ihren jeweiligen Biografien, mit ihrem Leiden unter Gefangenschaft und Gewalt, mit ihrem Kampf für Freiheit und mit ihrer Kraft und ihrem künstlerischen wie politischen Tun stehen Theodorakis und Neruda einerseits singulär auf der musikalischen wie literarischen Bühne des 20. Jahrhunderts, andererseits verbindet sie dies auch mit Künstlern wie Nono, Henze, Abbado, Pollini (wer weiß etwa, dass auch die beiden Letztgenannten Mitglied der IKP waren!), Lorca, Xenakis und vielen mehr. Mit unterschiedlichen künstlerischen Konzepten stritten sie für gleiche Ideale – Ideale, die für uns heute neue Bedeutung erlangen.
Gerade also durch das Musizieren auch der ‚anderen‘ Seite, Nonos »Intolleranza« bspw. in München 2007, verschiedene Stücke von Henze und Xenakis, auch durch Schnebels »Majakowskis Tod« (München, 2005) habe ich mich auch Theodorakis wieder annähern und das Projekt der Aufführung des »Canto General« ins Auge fassen können. Es war Dr. Reinhard Köhler, ehemaliger Vorstand der Singakademie und bei Christian Hauschild bereits als junger Sänger dabei, der den Ausschlag gab und mich anstachelte, es zu wagen. Das Ergebnis war eine der beeindruckendsten Aufführungen, die ich mit der Singakademie erleben durfte. Der Kulturpalast tobte, und wenige Sekunden nach dem letzten verklungenen Ton gab es standing ovations. Im Vorfeld hatten wir im Filmtheater Ost eine längere Einführung gegeben, danach wurde der Neruda-Film »DER POSTMANN« mit Philipp Noiret gezeigt. Im Nachgang stellte Asteris Kutulas seinen Film »DANCE FLIGHT LOVE DIE – with Mikis on the road« vor. Die wochenlange Einstudierung und das Training des spanischen Textes mündete also in eine Projektwoche, die in Dresden Spuren hinterlassen hat. Einige aus dem Chor waren später auch noch bei einer Aufführung in Berlin (unter Achim Zimmermann, dem Leiter der Berliner Singakademie) dabei.
Als Dirigent hat man an so einem Abend das Gefühl, sich in einen Strom zu stellen, dessen Wellen um einen herum fließen, während man selbst nur bedingt das Heft in der Hand hat. Die Musik ist so autark, ihre Wirkung so authentisch und stark, dass man am Ende jegliche Diskussion um ästhetische Positionen vergisst. Das Faszinierende am »Canto General« ist, dass selbst bitterböse Texte wie der über die „United fruit Co.“ mit einem Schwung und einem überwältigenden Glauben an die Kraft der einfachen Leute erklingen, dass allen klar ist: Die moscas, die Schmeißfliegen und Operettenherrscher, von denen Neruda erzählt (er erwähnt u. a. jene von Venezuela, Honduras, Nicaragua, Guatemala und Costa Rica) haben gegen die Kraft der Freiheit keine Chance. So gerät selbst die Anklage zum aufrüttelnden Tanz und Gesang.
Diese Kraft wird nach Theodorakis Tod nicht versiegen. Im Gegenteil. Sie wird weiter von seinen Idealen, Visionen erzählen und uns ermutigen, den Kampf mit der Wirklichkeit aufzunehmen. Widersprüche nicht ausgeschlossen. Aber mit authentischem Einsatz, mit der Offenheit für ästhetische Vielfalt und beglaubigt durch die eigene Biografie.
Ehre seinem Andenken und Dank für ein unglaublich großes, inspirierendes und kraftvolles Werk. Eine Jahrhundertfigur ist von uns gegangen.