Kaum ein Werk ist im Laufe seiner Aufführungsgeschichte so missverstanden, ja so misshandelt worden wie die »Carmina Burana« von Carl Orff. Morgen erklingt der orgiastische Liederreigen im Erzgebirgsstadion – unter einem Alte-Musik-Dirigenten. Das könnte interessant werden!
Dass er mit seinen weltlichen Liedern, den »Carmina Burana«, etwas ganz Neues, Bahnbrechendes geschaffen hatte, dämmerte dem gerade vierzigjährigen Münchner Komponisten Carl Orff schnell. Die Uraufführung muss noch ein bisschen warten, aber der durchschlagende Effekt, den das Werk 1937 bei einem atemlos lauschenden Publikum in der Frankfurter Oper hinterlässt, verleitet Orff zu dem bekannten Brief an seinen Verleger: „Alles, was ich bisher geschrieben und was Sie leider gedruckt haben, können Sie nun einstampfen! Mit den Carmina Burana beginnen meine gesammelten Werke!“
Nicht alle Zuhörer waren indes willens, das neuartige Werk so enthusiastisch willkommen zu heißen. Die Reichsmusikkammer witterte den Untergang des Abendlandes, eingeleitet durch diese „Niggermusik“. Die anstehende Aufführung in Dresden wurde erst einmal abgesagt – aber dann nieste das Schicksal Orff in die Karten. Der Führer selbst nämlich mochte die Gesänge angeblich und setzte sich für sie ein. Konnte man also das Werk als still und heimlich in der Schublade verschwinden lassen? Mitnichten. So traten die »Carmina Burana« ihren Erfolgszug über die kommen Jahrzehnte durch alle musikalischen Schichten an und wurden immer populärer: machten Schokolade sexy, kurbelten den Biergenuss an, landeten (der für mich unerklärlichste Ausrutscher, da in diesem Zusammenhang eigentlich nachgerade gemeingefährlich) unter der Stabführung von Christian Thielemann auf der CD »Driving: 111 Pieces Of Classical Music For The Road«, bis sie schließlich 2012 in Maastricht zu Laserblitzen ganz, ganz oben im Klassikolymp der unsterblichen Hits landeten:
Tja. Wie widmet man sich einem Werk wie den »Carmina Burana« heute? Geben die Lieder bei sorgfältigem Quellenstudium noch Geheimnisse preis? Darf man sich als Zuschauer – noch dazu in einem Fußballstadion – überhaupt noch ungehemmtem, quasi orgiastischem Genuss hingeben, ohne Gefahr zu laufen, in die seichten Gefilde des Klassikbusiness abzurutschen? Wenn diese Fragen ein Dirigent beantworten kann, dann vielleicht am ehesten Hans-Christoph Rademann: mit der Programmierung seines »Musikfestes Erzgebirge« ist die Qualität seiner Aufführungen bisher unbestritten gewesen. Im Rahmen des Schwesterfestivals, den »Silbermann-Tagen« von Domorganist Albrecht Koch, wird also morgen das »Große Sängerfest« der Musikfest-Ausgabe 2020 im Auer Stadion nachgeholt. Als Solisten wurden Axel Köhler und die stimmgewaltige Sopranistin Guibee Yang, langjähriges Ensemblemitglied am Theater Chemnitz, verpflichtet. Es gibt noch Karten. Vielleicht Schokolade. Und sicherlich Bier. Stürzen wir uns nach den Monaten der musikalischen Abstinenz umso lustvoller ins Abenteuer!
Disclaimer: Der Autor war 2012-2018 für die Kommunikation des Musikfestes Erzgebirge verantwortlich.