Als der Kulturpalast letztes Jahr pandemiebedingt seine Türen schließen musste, blieb der Wunsch der Philharmoniker, doch nicht ganz zu verstummen, erinnert sich Frauke Roth. Die Philharmonie-Intendantin gab dem langjährigen (und letztes Jahr emeritierten) Professor für Elektronische Musik an der hiesigen Musikhochschule, Franz Martin Olbrisch, daher einen ungewöhnlichen Kompositionsauftrag: der Palast sollte selbst zum klingenden Gebäude werden.
Olbrisch, der ähnliche Klanginstallationen bereits an Orten wie der Neuen Nationalgalerie Berlin oder auf Schloss Colditz verwirklicht hat, hörte sich damals durch eine Reisetasche voller CDs mit Aufnahmen der Dresdner Philharmonie, grub im Magazin der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden nach alten Schellackplatten und griff auch auf die dort bereits digitalisiert vorliegenden Datensätze zurück. Er konzipierte daraus acht separate Abspielstationen, die ihre jeweilige Tonspur über zwölf kleine Lautsprecher am Geländer der Palast-Beletage abspielen und auf den Altmarkt, die Schloßstraße und die Galeriestraße herunterregnen lassen.
Das Konzept der Installation geht von verschiedenen Aspekten des Orchesterklangs aus: Sakralmusik, Vokalmusik, Programmmusik, Absolute Musik usw. Olbrisch verarbeitet entsprechende Aufnahmen der Dresdner Philharmonie zu jeweils eigenen Klangkompositionen. Jedes Genre ist über jeweils einen der Lautsprecher zu hören. Oft meint der Hörer das Werk zu kennen, das vertraute Hören wird jedoch durch Verschiebungen, Mischungen, Überlagerungen irritiert; Ziel ist nicht zuletzt, dabei im Konzert oft überhörte Klangaspekte des Orchesters an die Höroberfläche zu bringen. Hintergrund ist auch die Überlegung, in welchem Raum sich Musik überhaupt ereignet. Wird die Außenhaut eines Gebäudes selbst zur Musikquelle, geraten akustischer und sozialer Raum in besonderer Weise in Berührung. Was entsteht, ist Interaktion: zwischen Passanten, Publikum, Musikern, Instrumenten, dem Orchester und natürlich dem Haus selbst.
Das Ergebnis ist nun, da der Palast glücklicherweise wieder geöffnet hat, drei Wochen lang täglich von 10 bis 19.30 Uhr im bewussten Hör-Rundgang zu erwandern. Der Effekt, den die subtilen Klangregenstationen auslösen, ist tatsächlich verblüffend. Aus der Irritation wird allmählich ein bewusstes Hören, das auch die den Kulturpalast umgebenden Stadtgeräusche mit einschließt. Musikfetzen wehen vorbei, werden bisweilen vom Straßenlärm übertönt, markante Flöten-, Klarinetten- oder Schagwerkspassagen der acht fünfzehn- bis dreißigminütigen Loops, die ihrerseits aus mehreren Dutzend Musikausschnitten bestehen, stechen heraus. Bisweilen klingt das wie die paar Minuten, die das Orchester schon auf der Bühne sitzt und die Musiker ausgewählte kitzlige Passagen noch einmal schnell durchgehen, bevor eingestimmt wird. Ach, was haben wir dieses nervöse Summen vermisst!
Olbrischs Installation soll aber auch zufällige Spaziergänger verlocken, einmal einen Blick in das Gebäude zu werfen: „Der Kulturpalast in Dresden steht praktisch in der Mitte der Stadt und damit an einem Ort, der auch en passant von Menschen erlebt wird, die vielleicht niemals zu Konzerten in dieses Gebäude gehen würden“, erklärt er. „Viele von ihnen kennen das verwendete Klangmaterial vielleicht gar nicht oder nur sehr bruchstückhaft. Solche Menschen neugierig zu machen auf unsere wunderbare Musiktradition, wäre für mich ein ganz besonderer Erfolg.“
Ein Tip für interessierte Flaneure: die Installation ist am besten sonntags zu erwandern, wenn die Stadt etwas ruhiger pulsiert. Wer in der 1. Etage des Palastes in den Lümmelsesseln der Kinder- und Jugendbibliothek (mit Blick auf die Bienenstöcke der Bibliothek an der Südost-Ecke) lauscht, hört eine Hörstation fast ohne den ‚Stadthintergrund‘.
Franz Martin Olbrisch (* 1952) studierte zwischen 1979 und 1985 Komposition an der Hochschule der Künste Berlin. Von 1988 bis 2008 war er Dozent für Komposition und Studiotechnik an der Universität der Künste Berlin und von 1999 bis 2008 für Komposition im Elektronischen Studio an der Technischen Universität Berlin. 2004 und 2006 war er Dozent bei den Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Von 2008 bis 2020 war er Professor für Elektronische Musik an der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ in Dresden. Einer seiner künstlerischen Schwerpunkte sind Kompositionen, die an Orten wie z.B. der Neuen Nationalgalerie Berlin, der Wittener Zeche Nachtigall, der Gedenkstätte des Gefangenenlagers Schloss Colditz in Klanginstallationen eingehen. Die Räume von Franz Martin Olbrisch sind Wahrnehmungskabinette. Dichte, feinstofflich aufgeladene Gebilde, in die der Besucher spürbar eintaucht. Er wird selbst zu einem Teil dieses Gebildes, Teil eines geradezu haptisch erlebbaren Zusammenspiels von Klang, Bild und Bewegung, von Erinnerung und Assoziation, von Projektion und Reflexion. Darüber hinaus schafft Olbrisch intermediale Arbeiten (Foto- und Videosequenzen im Zusammenhang mit Klangerlebnissen) und Kompositionen für verschiedenste Besetzungen (u.a. für Tuba und Zuspielband; Stimme und 16 Lautsprecher; Streichquartett; Flöte; Violoncello und Schlagzeug).
Eine Textfassung des Artikels ist am 9. Oktober in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.