„Schatz, er spielt unsere Variationen“ – das hätten die Dresdner Besucher am gestrigen Mittwochabend im Kulturpalast beglückt hauchen können. Schrieb Bach vor 280 Jahren die „Aria mit verschiedenen Veränderungen“ schließlich für den schlaflosen Grafen Keyserlingk, den die russische Kaiserin Anna an den Dresdner Hof entsandt hatte – oder? Die Anekdote um den Musikus Johann Gottlieb Goldberg, die das Programmheft des Konzerts ausgeschmückt darbietet (ein Textautor ist nicht genannt, wohl aber, dass die beim Druck anfallenden Kohlendioxid-Emissionen durch Klimaschutzprojekte kompensiert wurden) ist nicht belegbar, Goldberg zudem zur Entstehungszeit der Variationen dreizehn Jahre alt. Egal, eine hübsche Geschichte ist und bleibt es.
Eher treibt mich nach diesem Konzerterlebnis das Stichwort des Monats, meta, um. Parodiert der Pianist Lang Lang, der vor drei Jahren wegen einer Sehnenscheidenentzündung (oder fokalen Dystonie?) monatelang pausierte, eventuell bisweilen subtil sein eigenes früheres Virtuosentum? Spielt ironisch mit musikalischen Überhöhungen, aufgesetzten Gesten der Verinnerlichung oder des leeren Triumphs, ins Extreme getriebenen Tempi, raumgreifenden Dirigierbewegungen? Um sie hinterher zu entlarven und wieder zu einem „echten“, verinnerlichten Spiel zurückzukehren, bevor das Ratespiel erneut beginnt, die Bewegungen wieder ausufern, die Finger auf den Tasten abrollen wie Gummibälle und die Mundwinkel zucken?
Seine Einspielung der »Goldberg-Variationen« jedenfalls wurde im Februar 2021 als Höhepunkt seiner pianistischen, vor allem aber auch biografischen Entwicklung vermarktet. Der zwischenzeitlich an den Mammon, die Modemagazine und den internationalen Jetset verlorene Sohn kehrt in den Schoß der absoluten Musik zurück, erwandert sich auf dem mitteldeutschen Pilgerweg ein Opus magnum der abendländischen Musik, lernt von den Altmeistern Nikolaus Harnoncourt und Andreas Staier. Was für eine Geschichte.
Von den Ratschlägen der strengen Lehrer hat Lang, hört man sich die Studioeinspielung an, offenbar eine Menge berücksichtigt. Kluge Verzierungen, kleine improvisatorische Pointen in den Wiederholungen, das Hervorheben kontrapunktischer Entwicklungen, das Abwiegen von Binnentempi und das Ausstellen der plastischen Struktur des Variationswerks – alle Achtung! Vielleicht ist da hie und da ein bisschen zu didaktisch gedacht („Hört jetzt bitte auf diese feine absteigende Basslinie“), sind einige Akzente gegen den Strich betont. Geschenkt! Grenzwertig – jedenfalls für unsere heutige Zeit – finde ich, dass der Pianist sich in einigen Variationen weit vom Notentext entfernt. In Variation 7 beispielsweise quetscht er in der zweiten Wiederholung des ersten und eine der beiden Wiederholungen des zweiten Teils (je nach Tagesform) über Terz- und Sextführungen eine komplett neue Mittelstimme in die eigentlich sehr gut ausbalancierter Klangarchitektur hinein, was die nüchterne Variation sofort aus ihrem Kontext heraus in eine romantische Ecke schiebt.
Aber jetzt kommt’s: schon bei seinem Konzert in der Leipziger Thomaskirche (die als Mitschnitt vor- und der Platin-Edition der neuen Platte beiliegt) beginnt der Pianist, sich von seiner eigenen Aufnahme zu emanzipieren. Hier blinzelt bald der jüngere, spitzbübisch grinsende Lang Lang hinter einigen Ecken hervor, dem einst kein Tempo zu schnell, kein Stück zu schwer und keine Phrase zu romantisch sein konnte. Die Verzierungen werden häufiger, abenteuerlicher, die Rubati deutlicher, die Aushebungen und dynamischen Ausreißer heftiger. Es liegt ja nun auch kein schlafsuchender Gesandter im Nebenzimmer; nein, ein ganzer Saal voller Fans möchte anderthalb Stunden lang gut unterhalten werden!
Und hier beginnt die Sache nicht nur abenteuerlich, sondern bald absurd zu werden. Dick und fett liegen da die Triller wie obszön große Zuckerverzierungen auf der Torte; der allgemeine pianistische Zugriff sackt ins Saloppe ab, lapidar werden einige Passagen weggebürstet, andere dagegen schwülstig ausgestellt. Rhythmischere Variationen klopft der enthusiasmierte Pianist zudem meist mit dem Fuß mit, was nach einer Weile leicht zu nerven beginnt. Die „Variationen“ werden hier zu einer Abfolge von dreißig Attraktionen in einem Johann-Sebastian-Bach-Vergnügungspark: turmhohe Achterbahnen fährt der Pianist juchzend, ängstigt sich lustvoll in einer Geisterbahn der Harmonien, erfährt drei Ecken weiter die künstliche Schwerelosigkeit beim Indoor-Skydiving, hascht die großen bunten Schmetterlinge der 23. Variation, sinkt in der 25. Variation tief in den Sitz im dunklen Rund eines Klangplanetariums oder bewundert die großen, eleganten Haie, wie sie über seinem Besuchertunnel dahingleiten – bis er am Ende, nach Feuerwerk, Autoscooter und All-you-can-Eat-Klangbuffet müde und glücklich wieder durch die Aria schreitet.
Was könnte da für den wie rasend applaudierenden Saal besser als Zugabe passen als – ja – »Für Elise«? Aaaaaaaaah, seufzten die Damen, die zu Beginn des Konzerts, während Robert Schumanns »Arabeske op. 18«, noch das letzte Telefonat beendet und den gutaussehenden Multimillionär am Flügel mit ihrem Handy herangezoomt hatten, und waren sich einig: was für eine fantastische Idee, hierher nach Dresden zu kommen!
Weitere Tourstationen der nächsten Tage: Wien, Hamburg, Berlin, München, Paris, Köln, Mailand, Rom und London – wenn denn Corona keine Strich durch diese Rechnung macht.