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Gabentischempfehlungen, unzensiert

Lieber Leser, kaufst du noch CDs? Liest du noch Bücher? Vor einem Jahr waren wir gerade auf dem Weg in einen harten Lockdown und empfahlen, auf findige Händler zurückzugreifen, die ihre Schätze rechtzeitig vor Weihnachten nach Vorbestellung an der Ladentür ausreichten oder gar an ihre Kunden per Fahrrad auslieferten. Einige unsere liebsten Lieferanten sind inzwischen insolvent. Pleite. Oder haben freiwillig aufgegeben, bevor ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten sie nicht mehr schlafen lassen hätten. Denen, die noch durchhalten, sei müde zugewunken. Vielleicht haben sie ja noch die ein oder andere vorgestellte CD parat?

Klingender Nachruf

Als Ende Oktober der Dresdner Komponist Udo Zimmermann verstorben ist, war diese CD schon fertig eingespielt. Jetzt liegt sie vor und darf als ein klingender Nachruf für den einst unruhigen Geist empfunden werden. Seine Oper »Der Schuhu und die fliegende Prinzessin«, entstanden nach dem gleichnamigen Märchen von Peter Hacks, ist Ende 1976 im Großen Haus der Staatsoper Dresden uraufgeführt und an zahlreichen Bühnen nachgespielt worden.

Im vergangenen Sommer sollte sie auch am Opernhaus Chemnitz inszeniert werden, doch die Pandemie machte dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. Bitter für alle Beteiligten, doch Intendant Christoph Dittrich setzte alles daran, das Werk für Rundfunk und CD aufzuzeichnen. Schließlich war musikalisch alles schon einstudiert und bestens vorbereitet. Das sollte nicht umsonst sein, so Dittrich, dem dieses Werk wohl besonders am Herzen lag. DeutschlandRadio Kultur hat es komplett übertragen, bei MDR Kultur und MDR Klassik füllte es eine Stunde im Opernmagazin. Das Leipziger Label Rondeau hat diese Oper nun mit einem aufwendig gestalteten Booklet als Doppel-CD herausgebracht.

Unter der musikalischen Leitung von Diego Martin-Etxebarria, dem Ersten Kapellmeister in Chemnitz wirkt, entstand eine überzeugende Aufnahme des »Schuhu«, die den einfallsreichen Kompositionsstil von Udo Zimmermann noch einmal sehr deutlich macht. Vorzüglich zaubert nicht nur die Robert-Schumann-Philharmonie die aufregend abenteuerliche Vita des Wunderwesens namens Schuhu und seiner fliegenden Prinzessin nach, sondern gestaltet mit einem bestens aufeinander abgestimmtem Solistenensemble – allen voran Andreas Beinhauer und Marie Hänsel in den höchst poetischen Titelpartien – geradezu szenisch erlebbare Klangeindrücke. Damit stimmt diese Einspielung geradezu auf die nun zum Chemnitzer Kulturhauptstadt-Jahr vorgesehene Bühnenfassung dieser Oper von Udo Zimmermann ein.

Meister der Ausdrucksstärke

Natürlich vermissen wir Olivier Latry, der nun schon zum wiederholten Male als Palastorganist der Dresdner Philharmonie nicht an den Tasten und Pedalen im Kulturpalast vor Publikum wirken darf. Eindrucksvollen Trost bietet seine daheim in Paris eingespielte CD mit Liszt-Inspirationen. Latry, im Hauptberuf Titularorganist an der Kirche Notre-Dame de Paris, setzte sich für diese Aufnahme an die Rieger-Orgel der Pariser Philharmonie und zelebrierte daselbst ein schieres Feuerwerk an unterschiedlichsten Klangeindrücken.
Dass es ihm dabei nicht vordergründig um ein Zur-Schau-Stellen der eigenen Virtuosität gegangen sein dürfte, liegt auf der Hand. Vielmehr wollte Olivier Latry das umfangreiche Spektrum des nach ungegangenen Wegen suchenden Erneuerers Franz Liszt präsentieren. Ob das eingangs die sprühende Fantasie und Fuge über das Thema B-A-C-H oder gleich darauf die von Latry selbst vorgenommene Transkription über Liszts feinsinnigen »Liebestraum« sind, ob die von Marcel Dupré arrangierten Variationen über Bachs »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen« oder die eindrückliche Vogelpredigt von Camille Saint-Saëns über Franz von Assisi (»La prédication aux oiseaux«) sowie insbesondere die raumgreifende Fantasie und Fuge über »Ad nos, ad salutarem undam« – Olivier Latry erweist sich als ein Meister der uneitlen Ausdrucksstärke und stellt sich ganz in den Dienst der Musik.

Irre Hunde, grenzenlos

Kai Schumacher ist ein anerkannter Pianist. Man kennt ihn vor allem als Interpreten zeitgenössischer Literatur insbesondere von US-amerikanischen Komponisten. Ein Grenzgänger, der Klassik und Moderne gern miteinander verbindet.
Was aber ist Gisbert zu Knyphausen? Einem Online-Lexikon zufolge ein deutschsprachiger Liedermacher, Sänger [sic!] und Gitarrist aus dem hessischen Eltville-Erbach. Auch er ein Grenzgänger? Oder jemand, der Grenzen weder kennt noch respektiert? Aus subjektiver Sicht ist sein gemeinsam mit Kai Schumacher eingespieltes Album »Lass irre Hunde heulen« eine schiere Grenzverletzung. Da werden wunderschöne Lieder von Franz Schubert mit falschem Pathos begossen, tief ins Triviale und plump ins Poppige getüncht, dazu wird vom in den Text offenbar verliebten, aber mit der Musik nur begrenzt vertrauten Barden sehnsüchtig geheult, unglaubwürdiger Weltschmerz aufgebauschter und silbendehnend gejault.
Geschmacksgrenzen? Grenzen des vokalen Gestaltungsvermögens? Scheinen dem selbstüberschätzenden Pop-Künstler völlig egal zu sein. Das Resultat ist kitschiges Bardentum, wirft wertvolles Kunstlied ins Billigheim, von jeder Seriosität weit entfernt, aber mit einer ausgeprägten Spur von Rattenfängerei. Denn selbst etablierte Klassiksender widmeten diesem unfreiwilligen Mix aus vokaler Bedeutungshuberei, verschwurbeltem Gitarren- und Schlagzeuggeplänkel nebst anerkennenswertem Klavierspiel wertvolle Sendezeit. Für Schubert muss man singen können! Für Schubert-Lieder in Text und Musik eintauchen können! Hier jedoch hat sich jemand in einer ihm offenbar fremden Klangwelt verirrt.
Wir empfehlen ganz rasch den Griff zu Schubert-Aufnahmem von und mit Peter Schreier. Dem Ende 2019 verstorbenen Sänger ist diese kryptische Knyphausen-Entweihung erspart geblieben.

Michael Ernst

Unzensiert

Ja, dieser Schreier. Auf gleich zwei neuen CD-Covern prangt der vor zwei Jahren am ersten Weihnachtsfeiertag verstorbene Sänger. Berlin Classics – also Edel – sitzt auf den Rechten seiner Aufnahmen und plant offenkundig, sich damit eine altgoldene Nase zu verdienen, solange es noch sentimentale Hörer gibt, die mit seinem Namen etwas anfangen können. Die „Arien aus Kantaten von Johann Sebastian Bach“ wurden vor über einem halben Jahrhundert in der Versöhnungskirche Leipzig eingesungen; die „Lieder zur Weihnacht“ nahm Schreier 1978 in der Lukaskirche im Duo mit Norman Shetler auf. Diese CD ist wie eine Eterna-Schallplatte aufgemacht, und sogar der Text der damaligen Plattenhülle von Eberhard Rudolph wurde übernommen. Na dann.

Wenn wir einmal beim Verwursten sind, darf eine weitere, ziemlich unverschämte Wiederveröffentlichung nicht fehlen: der Punkgeiger Nigel Kennedy hat mit »Uncensored« eine kleine Dreierbox alter Schätzchen zusammenstellen lassen, die Aufnahmen aus den Jahren 1984 bis 2010 enthält. Nein, halt, ein „The Man I love“ von der 2017er Gershwin-CD hat sich noch mit eingeschmuggelt. Die drei CDs könnten wie folgt beschrieben werden: erstens weidlich bekannte Klassiker, zweitens unbekanntere Klassiker, drittens Resterampe von Ellington bis Stephen Duffy. Was Kennedy schon vor elf Jahren an Inspiration und Innovation fehlte, macht der müde Grinseopa inzwischen durch unverhohlene Unverschämtheit wett. Die Passage von den im deutschen CD-Beiheft zurückhaltend als „Dreckskerle“ und „Säcke“ übersetzten Kritikern seines Tuns liest sich, eins zu eins übertragen, schonungslos: „Ich war mir sicher: wenn mich irgendwelche neureichen Fotzen aus dem Business schmeißen würden, könnte ich ja wieder als Straßenmusiker auftreten, was sowieso viel lustiger und einträglicher war als die Gigs für BBC, klassische Konzertveranstalter und solches Gesocks.“ Weißte Bescheid!

Martin Morgenstern


Kerze an, Stollen anschneiden

Wie oft haben wir die bekannten Weihnachtslieder gesungen, ohne zu wissen, was für ein faszinierender Komponist dahintersteckt. Jetzt – zu seinem 450. Geburtstag und 400. Todestag kann man ihn nicht nur in ganzer CD-Bandbreite kennenlernen, mit dem Dresdner Kammerchor unter Hans-Christoph Rademann steht auch ein Ensemble hinter dieser Musik, das deren Qualität genau herauszukitzeln weiß, und das in wunderbar weicher Klangschönheit. Kerze an, Stollen anschneiden und Praetorius hören!*

Nanu, neue Musik auf dem Gabentisch? Und was hat das mit Dresden zu tun? Clemens Schuldt, der Leiter des Münchener Kammerorchesters, ist nicht nur ein spannender junger Dirigent, sondern ist auch in Dresden aufgewachsen und hat hier zunächst Violine studiert. Dass sich das Münchener Kammerorchester nun Ensemblewerken von Georg Katzer und Friedrich Goldmann widmet, widerspricht auch endlich dem Vorurteil, diese Musik sei nur im Osten geschätzt und gespielt (und auch das passiert noch viel zu wenig). Eine Entdeckungsreise mit einem absolut klanghungrigen und erfrischend prägnant musizierenden Orchester!

Alexander Keuk

Tranzparenzhinweis: selbstverständlich wissen geneigte Leser, dass der Autor dieser Zeilen hier auch sängerisch aktiv ist, jedoch nicht auf dieser Aufnahme. Das hält ihn eben nicht davon ab, von der Sangeskunst seiner KollegInnen euphorisch zu berichten.