Das geduldige Warten hatte ein Ende: die ersehnte Uraufführung der neuen, von der Semperoper in Auftrag gegebenen Oper »Die andere Frau« von Torsten Rasch konnte letzten Samstag endlich stattfinden. Sicherlich unter anderen Umständen, als sie Intendant und Komponist erhofft hätten: wiewohl »Die andere Frau« eigentlich nur drei bis vier Protagonisten zählt, ist das Werk keine kleine Kammeroper, sondern ein fantastisch vielfältig besetztes Werk mit großem Orchester (Musikalische Leitung: Michael Wendeberg, zwei Hilfsdirigenten), zwei Chören (Einstudierung: André Kellinghaus, Christiane Büttig) und unzähligen Komparsen auf der Bühne; was, reichlich absurd, am Samstag dazu führte, dass das streng corona-reglementierte Publikum, auf der Opernbühne mit Blick in den leeren Saal platziert, dem künstlerischen Personal zahlenmäßig deutlich unterlegen war.
Das alttestamentarische Setting kreist um Abram (Markus Marquardt), seine Halbschwester und Ehefrau Sarai (Magdalena Anna Hofmann, die Evelyn Herlitzius ersetzt) und die Sklavin Hagar (Stephanie Atanasow, die sängerisch bei mir den stärksten Eindruck hinterlässt), die – so schlägt es Sarai vor – Abram einen Sohn schenken soll, da sie selbst nach Vergewaltigung durch ägyptische Männer keine Kinder mehr empfangen kann. Helmut Kraussers Libretto orientiert sich am Bibeltext, legt den Figuren aber auch liebevolle, ironische und spöttische, eben ganz menschliche Kommentare in den Mund. Ein Schlüsselmoment: Abram, der Gottesfürchtige, erfährt von der Zerstörung von Sodom und Gomorra, und dass Lots Weib zur Salzsäule erstarrte, als sie zurückblickte, „was ihr verboten war“. Sarai entgegnet ihm: „Warum war’s ihr verboten?“ – woraufhin Abram erstarrt. Die Dinge zu hinterfragen, käme ihm nie in den Sinn! Allenfalls genießt er heimlich den Sex mit Hagar, auch wenn er es gegenüber seiner Frau niemals zugeben würde.
Kompliziert wird es dann durch eine dreiköpfige göttliche Eingreiftruppe (Philipp Mathmann, Philipp Meraner, Ilya Silchuk). Sarai wird nämlich nach einem Besuch dreier Engel, die Abram bitten, sich während ihrer Intervention am besten kurz zu entfernen, doch noch selbst schwanger. Mit Mitte neunzig; naja, es waren eben andere Zeiten. Zählt Abram, selbst in direkter Linie auf Adam und Eva zurückgehend, zu seinen Vorfahren doch illustre Ur-Opas wie Noah (950 Lebensjahre) oder Methusalem (969 Jahre). Abrams eigener Vater stirbt viel zu jung mit 205, er selbst wird sein Leben im gesättigten Alter von immerhin 175 beschließen.
Spätestens mit Sarais Schwangerschaft ist „die andere Frau“, die Abram den Erstgeborenen Ishmael schenkte, in ernsthafter Gefahr. Und ab jetzt ergeht sich das Libretto auch mehr und mehr in Rätselhaftigkeiten, in Gleichnissen und Andeutungen. Sogar ein Sequel ist da am Ende angedeutet… hoffen wir also auf Fortsetzung.
Was in Erinnerung bleibt? Noch bevor die Musik einsetzt, beeindruckt das gleichnishafte Bühnenbild von Arne Walther in seiner Zuspitzung, seiner bedrückenden Zeitlosigkeit. Dieser endlose, mit verlorenen Schuhen Schicht um Schicht, Jahrzehnt um Jahrzehnt angefüllte Flüchtlingsweg, auf dem bekümmernswerte Gestalten mit ihrem Reisegepäck entlangschwanken! Die namenlosen Flüchtlinge sind von der Kostümbildnerin Anni-Josephine Enders in wahrscheinlich unendlicher Arbeit ausstaffiert; diese Figuren mit ihren improvisierten Kleidungsstücken, ihren Rucksäcken, aus denen mal eine Lampe, mal ein Stofftier ragt, manche zerren ihren letzten Besitz hinter sich her oder schieben vollgepackte Kinderwägen, in denen kein Kind mehr sitzt; das vergisst man nicht.
Und dann natürlich die Musik. Sie entstammt zwei Welten; in zehn Szenen erklingt eine scharfe, stechende, pointierte, ergreifende, komplex geschichtete Musik, bisweilen an Straussens »Salome«, teilweise an viel, viel tieferliegende Musikschichten erinnernd. Unterbrochen und abgeteilt werden diese Szenen von einer Sängerin (Sussan Deyhim, Iran) mit einer elektronisch untermalten Wehklage um die Zerstörung der Stadt Ur.
Der Regisseur Immo Karaman zeigt uns einen immerwährend von rechts nach links (von Ost nach West?) vorbeifließenden Flüchtlingsstrom. Einige verlieren ihr Hab und Gut, lassen die Requisiten erschöpft zurück oder verlieren sie zufällig; später Nachfolgende sammeln sie wieder auf und schleppen oder schieben sie weiter. Die Protagonisten sind Teil dieses unendlichen, übermüdeten, benommen dahintappenden Stroms; sie halten für einzelne Szenen kurz auf der Bühne inne und ziehen dann weiter. Ein so kraftvolles, bedrückendes Bild ist auf einer Opernbühne selten; fast schade, dass Karaman den handelnden Personen durch abstrahierte Bewegungen in Zeitlupe, die zeitweilig in symbolistischen Tableaus münden, zusätzliche Bedeutung aufladen möchte und sie dadurch der Welt, unserer eigenen Welt, entrückt. Und auch die Videoinstallation, die dem schmalen Bühnenpfad einen abstrakten Hintergrund verleiht und den Zuschauerraum der Oper mit organisch wogenden, wabernden strahlenden und spritzenden Bewegungen füllt, wäre für mich entbehrlich gewesen, da sie die erschlagende Wirkung des Bühnenbilds abschwächt.
Beängstigend fahl klingen am Ende die Beifallsbekundungen des kleinen Publikums, obwohl die Begeisterung aller über diese gelungene Oper deutlich zu spüren ist. Ensemble, Solisten, Orchester, Dirigent, Regieteam, Librettist und Komponist nehmen Bravorufe entgegen. Aber die ganze Situation in einer leeren Semperoper mit versperrten Rängen, darüber kreisendem Hubschrauber (nicht genehmigte Querdenker“spaziergänge“ in der sonst totenstillen, touristenfreien Innenstadt), das alles ist so ein absurdes Jetztzeit-Szenario! Hoffentlich findet »Die andere Frau« bald ein angemessen großes Publikum an anderen Häusern, wenn die Zeiten wieder besser sind.