„Eine in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche und besonders eindrückliche Interpretation des Schubert’schen Meisterzyklus“, hatte die Internationale Hugo Wolf Akademie e.V. in Stuttgart angekündigt. Was dann im Stuttgarter Wilhelma Theater zu erleben war, dürfte gerade angesichts der in jüngster Zeit mehrfachen choreografischen Interpretationen der »Winterreise« nicht wenige Erwartungen in hohem Maße übertroffen haben.
Einer der bedeutendsten Liedinterpreten, Dietrich Fischer-Dieskau, spricht angesichts des „Leidensausdruckes“ dieser Lieder von „verschreckender Intensität“. Angesichts dieser Aufführung kommt auch eine erschreckende Aktualität dazu, vor allem emotional, nicht im Sinne vordergründiger Aktualisierungen.
In dieser choreografischen Inszenierung von Andreas Heise bildet diese Intensität eine sich am Ende als genial erweisende Grundlage. Nicht zuletzt wegen der ästhetischen Entscheidung, dem kammermusikalischen Charakter der Vertonungen jener 24 Lieder von Wilhelm Müller durch Franz Schubert kraft der Intensität der Stimme, des Tanzes und des Klavierspiels zu entsprechen. Das ist aber nur möglich, wenn eine Sängerin wie Juliane Banse sich immer wieder in die existenziellen Abgründe der Lieder des einsamen Wanders begibt.
Wenn ein Tänzer wie István Simon sich in keinem Moment in illustrativen Irrungen verliert. Wenn ein Pianist wie Alexander Krichel durch die Sensibilität seiner sowohl mitfühlenden wie aber auch immer wieder aufrichtenden und kraftvoll, tröstenden Begleitung, den Wandernden so unwahrscheinlich nahe ist, und somit letztlich mit ihnen auf dem Weg ist. Und noch einmal Fischer-Dieskau, für den Franz Schubert „wenige Werke mit solcher seelischen Verve, mit solcher Betonung des Seelischen“ geschaffen habe wie diesen Zyklus.
Und so wie im zwanzigsten Lied des Zyklus die Sopranistin Juliane Banse in so existenzieller wie berührender Tongebung von jenen »Drei Sonnen« singt, die nicht die Ihren sind, so wird die gesamte musikalische und tänzerische Gestaltung dieser unaufhaltsamen Reise in die Tiefe seelischer Einsamkeit zu einer Abfolge existenzieller Verlusterfahrungen. Und dennoch: der Tanz macht dieses immer wieder wie ein Aufbäumen so unausweichlich sichtbar. Es sind doch drei Seelen, die, um nicht gänzlich daran zu verzweifeln, dass ihre Sonnen längst kein Licht mehr für sie spenden, einander aufhelfen, einander tragen können. Und die sich sogar, wenn die kalten Winde scharf wehen auf dieser Winterreise, wenigstens für Momente einander Schutz geben können.
Das kann ganz direkt geschehen, in tänzerischer, körperlicher Nähe. Im Aufhelfen, im Aufheben, auch dann, wenn der Tänzer die Sängerin trägt, der Pianist ihnen in aufhebendem Blick, vor allem in der Sensibilität seines Klanges, so etwas wie ein Fundament bereitet.
All das hat einen optischen Ausgangspunkt, bevor diese Reise beginnt: der Tänzer István Simon kauert in verzweifelter Haltung, ganz in sich gekehrt, in dunkler Stimmung des Lichtes von Johannes Schadl, ganz nahe am schwarzen Boden der Bühne, als wolle er in der Unergründlichkeit dieser Tiefe eine letzte Zuflucht finden. Es ist Alexander Krichel, der Pianist, der sich schützend über ihn beugt und dann doch für den weiteren Verlauf der Reise Platz an seinem Instrument finden muss. Dann, gänzlich aus dem Dunkel, die Sängerin: Wir sehen sie nicht, ihre Präsenz aber ist da, immer wieder kraft der Töne, die sich fügen, zu Varianten der Melodik ganz unterschiedlicher Art. Jetzt singt sie davon, dass sie fremd eingezogen ist, und ebenso wieder ausziehen wird. Und immer wieder Abschiede: die leisen, in zerbrechlicher, lyrischer Führung der Stimme; auch die aufbäumenden, in dramatischem Aufbegehren, aber auch in der schmerzenden Verletzlichkeit dunkel grundierter Töne. Dazu immer mit dem Einsatz körperlicher Bewegung, dennoch nicht der geringste Ansatz Anflug tänzerischer Illustration der Lieder, um so stärker aber in der Kunst tänzerischer Abstraktion.
Und da kommen auch bei dieser Künstlerin die Begabungen zusammen. Sicher ist Juliane Banse in erster Linie geschätzt, berühmt als Sängerin, auf der Bühne, im Konzertsaal. Aber hier hat sie eben auch die Möglichkeit, auf die Erfahrungen ihrer Ausbildung als Tänzerin zu vertrauen.
István Simon als Tänzer mit besten klassischen Grundlagen, immer aber im Dialog mit neuen Formen des tänzerischen und körperlichen Ausdrucks, kann in dieser Winterreise mit erschütternden Tönen des körperlichen Gesanges aufwarten. Da ist der große Reichtum seiner Facetten: expressiver Aufbruch, gekonnte Technik der Sprünge, als gelte es diesen Weg jener umumkehrbaren Reise zu verlassen, die Grenzen zu durchbrechen. Dann aber wieder, ganz in der Musikalität des Gesanges, des Stils von Alexander Krichel, auch Passagen von Bewegungen schmiegsamer Art, wie denen eines möglichen Einverständnisses, sich der Erstarrung hinzugeben.
Ja, da sind auch immer wieder jene Lieder, die man zu kennen meint, aber in dieser Interpretation verlieren sie alle scheinbare Volkstümlichkeit. Es findet sich eben keine Ruhe unter den rauschenden Zweigen des Lindenbaumes. Es ist die Einsamkeit. Die Post hat keinen Brief. Die Stille des einst so lustig rauschenden Flusses täuscht, und die wunderliche Krähe kann dem einsamen Wanderer, hier den drei einsamen Wanderern, keine Treue bis zu Grabe verheißen. Es sind drei wandernde Seelen, es sind drei Menschen, denen es eben nicht gelingt, den Täuschungen falscher Wegweiser zu widerstehen, deren Wirtshaus auf einem Totenacker gebaut ist. Und dann die Erkenntnis, selbst hier sind alle Kammern längst belegt.
Und so kehrt nach vielen zarten Begegnungen des Tanzes, nach aufhelfender Grundierung des Pianisten, nach den lyrischen Tönen unbestimmter Sehnsucht, dieses Trio der einsamen Wanderer am Ende zueinander zurück. Es sind die Töne dieses mystischen Leiermannes, den keiner hören will, dessen Töne aber nun Juliane Banse, István Simon und Alexander Krichel schmerzhaft verinnerlicht haben. Sie werden zueinander finden. Mit dem Licht von Johannes Schadl verlöschen seine optischen Kompositionen berührender Stimmungen, die somit zu einem choreografischen Element dieser dunklen Reise einsamer Seelen unter den erloschenen Sonnen wurden.
Ja, mag sein, man könnte denken, es liefe bei dieser Reise alles auf eine zutiefst pessimistische Grundstimmung zu. Nein! Dem ist nicht so. Und so erweist sich die choreografische Kraft von Andreas Heise. Natürlich geht es nicht darum, optimistische Brüche den Ansprüchen dieser Komposition entgegen zu stellen. Nein, Heises Antanzen gegen die Einsamkeit erspart dem Publikum keine schmerzhaften Assoziationen eigener „Winterreise-Erfahrungen“. Auch kein voreiliges Vermitteln, dass ja alles nicht so schlimm sei, wäre im Sinne des Choreografen. Nein, diese neunzig Minuten sind hart. So werden die Möglichkeiten der Künste, die hier zusammen kommen, genutzt. Dies aber, um die Zuschauenden und Zuhörenden ganz ernst zu nehmen, ihnen eine Möglichkeit zu geben, für jene kostbaren Momente im geschützten Raum des Theaters, sich zu öffnen, sich einzulassen auf diese so einzigartige, assoziative Kraft des Tanzes und der Musikalität, des Lichtes und des Raumes, die hier zudem so überzeugend zusammen finden. Und es mag zunächst wie ein Widerspruch wirken – aber kraft der Berührung durch diesen schmerzvollen Tanz-Klang könnten wir Momente der Kraft beziehen, um uns auf die eigene Winterreise zu begeben.
Boris Gruhl
Nun merk ich erst, wie müd‘ ich bin
»Lied in Dresden« – eine der wichtigsten Konzertreihen im Dresdner Kulturleben, längst etabliert, möchte man meinen. Mit dem Bariton Henryk Böhm war gestern Abend im Konzertsaal der Hochschule einer der Gründer zu erleben: 1998 rief er die Reihe mit Freunden und mit Unterstützung seiner Lehrerin Christiane Junghanns ins Leben. Inzwischen lehrt er selbst als Gesangsprofessor in Hannover und war nun mit seinem Kollegen Jan Philip Schulze, dortselbst Professor für Liedbegleitung, in seiner Heimatstadt Dresden zu Gast. Auf dem Programm: wiederum »Winterreise«. Ein Geschenk, da teilhaben zu dürfen! Oder?
Natürlich ist der Zyklus im allerengsten, dem Herzen nächstgelegenen Standardrepertoire des Sängers. Eine vorprogrammierte Sternstunde sozusagen, weswegen sich eine klassische Rezension fast verbietet: der Abend war nicht perfekt, er war nicht vollkommen, über einige interpretatorische Eigenheiten hätte ich gern mit den beiden Interpreten philosophiert. (Beispielsweise den Schluss des »Leiermanns« im Klavier ersterbend ins linke Pedal zu nehmen. Weisen nicht der Liedtext und die aufbegehrende Singstimme sacht in Richtung Neuanfang, mit dem Mut der Verzweiflung?) Aber er hatte doch in jedem Fall Referenzcharakter und hätte mindestens für die Studierenden der Gesangsklassen zum kalendarisch rotumrandeten Abendtermin zum Auftakt des neuen Semesters gehört; viel-diskutiert, sorgfältig vorgehört, vielleicht mit den Noten auf den Knien verfolgt und hernach mit dem Hauptfachlehrer ausgewertet.
Und ebendeswegen noch einmal zurück zur Frage: wann ist eine solche Konzertreihe etabliert? Wenn sie an der Hochschule institutionalisiert ist, ihre Finanzierung nicht in Frage steht? Wenn sie ohne große Werbung ein kleines, aber treues Publikum anzieht, darunter viele Weggefährten der Künstler, viele Kollegen und in Ehren ergraute ehemalige Mitstreiter (die sich übrigens noch zwei berückend schöne Zugaben erklatschten, bei denen Henryk Böhm noch ein interessantes aufführungspraktisches Detail unterbrachte)? Oder wenn die Konzerte der Reihe wie selbstverständlich im Semesterablauf vermerkt sind (möchte man doch vielleicht später mit viel Glück selbst einmal eingeladen werden!), wenn man aus den Semesterferien eine Woche früher nach Dresden zurückkehrt, um ja nicht zu verpassen, wie ein Henryk Böhm den Zyklus auffassen würde, welche dramaturgischen Möglichkeiten (für Liedbegleiter) der Hammerflügel bietet, wie man mit der Akustik des Saales arbeitet. Wie man ein nach der langen Coronapause kulturdürstendes, aber auch etwas aus der Übung geratenes Publikum zwei Dutzend Lieder lang dramaturgisch am Schlawittchen packt und tiefer, immer tiefer mit ihnen in diese seelische Winterlandschaft hineinwandert. Verdammt noch mal! Wie kann es sein, dass die Gesangsstudierenden im Publikum an so einem Abend an einer Hand abzuzählen sind?
Martin Morgenstern