Durch den russischen Invasionskrieg hat Udo Zimmermanns Kammeroper »Weiße Rose« eine beängstigende Aktualität bekommen.
Dass Vergleiche mit den Gräueln im Nationalsozialismus meist schrecklich in die Irre führen, wird uns in Zeiten bewusst, in denen sich Querdenker Judensterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ auf die Jacke nähen, in denen ein elfjähriges Mädchen ihren Geburtstag angeblich heimlich feiern muss wie einst Anne Frank – und ‚Jana aus Kassel‘ auf einer Kundgebung kundgab, sie fühle sich „wie Sophie Scholl, da ich hier seit Monaten im Widerstand bin“. Und trotzdem fühlt man sich am Ende der Aufführung der Kammeroper »Weiße Rose« geschockt von den Parallelen der Geschehnisse, die im Stück verhandelt werden und jenen, die sich dieser Tage von unseren Augen abspielen. Was meine ich damit?
Auf der Bühne: die Geschwister Scholl. Sie bilden den historischen Hintergrund für eine grundlegende Befragung menschlicher Hoffnungen und Abgründe. In sechzehn Szenen verhandeln „zwei Sänger“ (so die Originalbezeichnung des Komponisten), Elisabeth Dopheide und Franz Xaver Schlecht, humanistische Grundideen und ihren Verrat. Wolfgang Willascheks Libretto kreist um Liebe, Sehnsucht, Verzweiflung, Sich-auflehnen – und immer wieder und jedes Mal schmerzlicher, das Schweigen, die mangelnde Zivilcourage. „Wir haben eine Mauer aufgebaut“, heißt es etwa in der sechsten Szene. Was zur Uraufführung 1986 vielleicht noch andere, fasslichere Assoziationen geweckt hätte, erinnert 2022 fatal an Wolodymyr Selenskyis Worte einer „neuen Mauer“, die die russische Invasion in Europa geschaffen habe: die zwischen Freiheit und Unfreiheit. Und überhaupt diese kognitive Dissonanz zwischen unserem eigenen Alltag, den täglichen Verrichtungen und Pflichten, und dem Bewusstsein, dass ganz in der Nähe ein fürchterlicher Krieg tobt. „Dass es das gibt…“, singt Sophie da zum Beispiel, „daß Wald so einfach weiterwächst und Bäume Schatten geben“, und Hans gleich darauf „das Stöhnen der Gequälten, die Seufzer der Verlassenen“ beklagt. Und wie Schläge die Worte des Sängers: „Wir hören Seufzer, Rufe um Hilfe und bitterliches Weinen, aber wir schweigen.“ Über diesem Abend schwebt die Frage: was hätte ich getan?
Die künstlerische Leistung, die beide Sänger (einschneidend der dramatische Sopran Elisabeth Dopheides, bis an die Grenzen der stimmlichen Erschöpfung heran) und das reduzierte Instrumentalensemble aus den Reihen der Giuseppe-Sinopoli-Akademie der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Johannes Wulff-Woesten in diesem Schicksalsstück abliefern, ist phänomenal. Die Musik quillt aus dem Orchester, das hinter dem Publikum positioniert ist, in den kargen Bühnenraum, den der Regisseur Stephan Grögler gebaut hat; erschütternd direkt, krass und unpathetisch. Dass das Geräusch fallender Wassertropfen vor Beginn des Stücks sich später quälend genau in den monoton-repetitiven Elementen von Udo Zimmermanns Musik spiegelt – ob das nur in meiner Einbildung so ist? Die Assoziationen, die David Bösch am Uraufführungsort in seiner »Graphic Opera« auffährt, sind jedenfalls noch im Kopf und finden nun durch die aktuellen Geschehnisse neue Nahrung.
Eine viel zu lange Wartezeit beginnt nun bis zur nächsten Aufführungsserie im Mai 2023. Unter welchen äußeren Umständen, unter welchen Vorzeichen wird sie stehen? Sollen wir hoffen, dass unsere Brüder und Schwestern aus St. Petersburg, aus Moskau, aus Sotschi, Perm und Nowosibirsk, irgendwann zu Zehn-, zu Hunderttausenden gegen diesen schwachsinnigen Krieg aufbegehren werden? Oder ist auch hierzulande nötig, zu helfen, zu stützen und vor allem auch laut zu widersprechen?
Nicht schweigen, nicht mehr schweigen.
Wenn einer anfängt / sprechen viele nach.
Ein Aufschrei liegt schon in der Luft…
Ein tausendfacher Schrei…
Sagt nicht, es ist fürs Vaterland!
Verlängert diesen Wahnsinn nicht!
Stellt euch nicht blind und taub,
wenn mitten unter euch der Tod zuhause ist.