Einst unerwünscht, jetzt wieder an der Prager Staatsoper, »Der Ferne Klang« von Franz Schreker im Rahmen des höchst beachtenswerten Programms »musica non grata«
Die heutige Prager Staatsoper, eröffnet 1888 als das Neue Deutsche Theater, vor allem für den hohen Anteil deutscher Bevölkerung in Prag, entwickelte sich im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts zu einem bedeutenden Theater vor allem im Bereich der musikalische Avantgarde. Werke von Paul Hindemith, Erich Wolfgang Korngold, Franz Schreker und Alexander von Zemlinsky wurden hier aufgeführt, um nur einige Beispiele zu nennen.
1939 wurde Prag von der Deutschen Wehrmacht besetzt. Hitler proklamierte das Protektorat Böhmen und Mähren. Mit den neuen Machthabern kamen drastische kulturelle Vorgaben, vor allem die bisher hier aufgeführten Werke und ihre Schöpfer waren nicht mehr erwünscht, sie galten als entartet: »musica non grata«.
Nach der Befreiung 1945 hieß das im Stil der Neurenaissance erbaute Theater zunächst »Große Oper des 5. Mai«, von 1949 bis 1992 »Smetana-Theater«. Jetzt gehört die Staatsoper zum Tschechischen Nationaltheater in Prag, mit eigenem Chefdirigenten, Chor und Orchester. Und nach langjähriger Sanierung erstrahlt das Theater endlich in neuem Glanz. Unfreiwillige Pausen im Spielplan brachte die Pandemie.
Jüngst feierte die 1912 in Frankfurt uraufgeführte Oper »Der Ferne Klang« von Franz Schreker Premiere, erstmals 1920 durch Alexander von Zemlinsky hier zur Aufführung gebracht, später in die Vergessenheit gedrängt, denn Schrekers Werke gehörten zu denen, die nicht erwünscht waren. Diese Premiere fand im Rahmen des Programms »musica non grata« statt, einem auf die Dauer von vier Jahren konzipierten Deutsch-Tschechischen Musikprogramm, initiiert und organisiert vom Nationaltheater Prag und mit einer finanziellen Förderung von vier Mio. Euro unterstützt von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Vor allem in der Zusammenarbeit mit dem Musiktheater des Tschechischen Nationaltheaters und der Staatsoper, mit Per Boye Hansen als künstlerischem Direktor, soll es nicht lediglich um eine Art musealer Rückschau gehen. Es geht darum, diese nicht erwünschten, vergessenen Werke, unter Beachtung der historischen Kontexte – etwa jener Künstler die dem Holocaust zum Opfer fielen, emigrieren mussten, ihre Existenzen verloren – jetzt in aktuelle Kontexte zu führen: Künstlerische Erinnerungsarbeit, um die Wahrnehmungsfähigkeit für aktuelles Geschehen zu schärfen.
Herausforderungen einer üppigen Klangwelt
Ganz aktuell dem Vergessen entgegen, »Der Ferne Klang«, die erste Oper von Franz Schreker, sein Einstieg in die Opernwelt, in den Erfolg als Komponist, als Lehrer, bis er 1933 von den Nazis aller Ämter enthoben wurde und im Jahr darauf im Alter von 56 Jahren starb. Eigentlich geht es in dieser Oper um ein Künstlerproblem, autobiografisch geprägt. Im Mittelpunkt ein Komponist, sein Kampf mit einer Art Liebessehnsucht, was sich schon mal zu krankhaftem Wahn steigern kann, wenn es nicht gelingen will, Klang und Vision, Wahn und Wirklichkeit zu vereinen. Der Komponist Fritz ist da auf der Suche nach jenem geheimnisvollen, fernen Klang. Dabei überhört er den Klang des Lebens, ganz nahe bei sich. Denn da ist Grete, eine junge Frau, umgeben von den harten Klängen der Realität. Trunk- und Spielsucht des Vaters haben die Familie ruiniert, Grete soll gegen Alkoholschulden mit dem Wirt verheiratet werden. Fritz hat sie auf der Suche nach seinem Klang verlassen. Ihre Flucht geht in die Prostitution, hier steigt sie auf, wird zu einem Star der Szene beim opulenten Fest der gut Betuchten im venezianischen Luxus. Das kann ihr Fritz nicht verzeihen; sie heiratet einen Grafen, aber ihr Abstieg ist nicht aufzuhalten. Fritz hat keinen Erfolg, seine Oper Die Harfe fällt durch. Er wird sich seiner Schuld bewusst, wartet auf Grete, er stirbt in der originalen Handlung der Oper ihren Armen. Da nimmt er den fernen Klang endlich wahr. Zu spät!
Am Pult des Orchesters der Prager Staatsoper stellt sich Chefdirigent Karl-Heinz Steffens den enormen Herausforderungen üppiger Klanggewalt, immer wieder im Wechsel mit kleinteiligen Formen bis zu den Grenzen des Sprechgesanges. Doch diese musikalische Unentschlossenheit macht Sinn, in diesem Werk der Suchenden, die auch musikalisch immer wieder entfliehen, in ferne Welten, zu fernen Klängen. Das Orchester kann da schon mal opulent aufbrechen, es bleibt immer in der Tonalität, weite Passagen melancholischer Melodik lassen Erinnerungen an Puccini anklingen, andere weisen doch schon in die Nähe der Atonalität. So hat der dreiteilige Abend immer wieder große Momente, vor allem wenn der Klang über das gesungene Wort hinausgeht. Ein großes Ensemble stellt sich mit hohem Engagement den Ansprüchen, unterschiedlich allerdings in den Anforderungen des Gesanges in der deutschen Originalsprache. So seien die beiden Hauptpartien stellvertretend genannt, die russische Sopranistin Svetlana Aksenova als Grete, der tschechische Tenor Aleš Briscein als Fritz.
Für die Inszenierung wurde der russische Regisseur Timofej Kuljabin eingeladen. Nicht unumstritten mit seinen mitunter sehr eigenwilligen Arbeiten, aber schon zweifach ausgezeichnet mit renommierten Regiepreis »Goldene Maske«. Er hat das Stück aus einer Zeit der Fantasie zu Beginn des letzten Jahrhunderts in die Atmosphäre einer heutigen Großstadt verlegt. Aber ohne eine gewisse Art verallgemeinernder Zeitlosigkeit kann man auf der Grundlage dieser Musik letztlich nicht glaubhaft werden. Ja, es sind Menschen von heute, nicht zu übersehen, Kostüme, Frisuren, Ambiente. Aber es sind eben auch Sängerinnen und Sänger, deren körperliche Haltungen gar nicht verkennen lassen können, dass sie sich höchsten Konzentrationen und körperlichem Einsatz hingeben müssen. Zudem hat der Regisseur eine besondere Sicht auf die junge Frau, diese Grete. Sie beobachtet das Geschehen, sie kommentiert singend, was geschieht, was mit ihr geschieht, was sie mit sich geschehen lässt. Sie schreibt es auf. Die Manuskripte lassen am Ende Fritz auf seiner Suche nach dem fernen Klang in seiner Flucht vor den Klängen der Realität erstmals einen wahren, fernen Klang vernehmen, und der kommt eben nicht aus dem Weltall. Aber für ihn zu spät.
Die Sängerin Kristýna Štarhová agiert als Double der Grete, das funktioniert. Weniger Überzeugend gelingt der zweite Teil, eben jener erotische Maskenball auf einer sündhaften Insel bei Venedig: verklemmtes, biederes Rampentheater, schade. Aber es folgt ja der dritte Teil, wieder in der künstlichen Realität. Auch hier am Ende ein gelungener Akzent: Fritz stirbt nicht in Gretes tröstenden Armen, sie schließt das Klavier, sie geht, sie hat es verstanden, den Klang der Zeit zu vernehmen und ihm zu folgen.
Das Programm wird fortgesetzt, als nächste Premieren werden für das laufende Jahr noch vier weitere Premieren angekündigt: »Flammen« von Erwin Schulhoff, ab 12. Juni; »Ball im Savoy« von Paul Abraham, ab 16. September; »Schwanda der Dudelsackpfeifer« von Jaromir Weinberger, ab 6. Oktober; »Verlobung im Traum« von Hans Krása, ab 19. November, dazu kommen Konzerte, Begleitveranstaltungen und wissenschaftliche Arbeit.
Aber ein Nachsatz zum Thema »musica non grata« – unerwünschte Musik: Es wirkt höchst befremdlich, wenn seitens der Tschechischen Staatsoper nun mitgeteilt wird, dass die für die nächste Saison geplante Inszenierung der sehr selten gespielten, komischen Oper von Tschaikowski, »Pantöffelchen«, nach einer Erzählung von Gogol, nicht aufgeführt werden kann, weil Teile der Erzählung vom „großen russischen Reich“ handelten. Die Oper wurde 1887 uraufgeführt, Gogols Erzählung erschien erstmals 1831/32.