Über diesem »Lohengrin« schwebt der Abschied: zum letzten Mal reist die Sächsische Staatskapelle unter ihrem Chefdirigenten Christian Thielemann zur österlichen Residenz an die Salzach.
Graupelschauer jagen durch Salzburg am heutigen Sonntag. Wo eben noch die Sonne schien, sind mit einem Mal dichte graue Vorhänge zugezogen, Sichtweite null; ein Mittagsgeläut später alles wieder friedlich, die schneebedeckten Berggipfel glänzen still über der Stadt, die Touristen schütteln ihre Schirme aus und setzen die Kapuzen ab.
Seit 2013 wurden hier von unseren Dresdnern zu Ostern Gefäße von wundertät’gem Segen gefüllt und geleert. Vor zwei Jahren fielen die Festspiele dem Virus zum Opfer, letztes Jahr verschob man die Festwoche vorsichtshalber in den Herbst, machte die Osterfestspiele zu den allerersten „Oktosterfestspielen“. Nun also ein vorerst letztes Wiederhören an der Salzach im schönsten Aprilwetter. Über allem schwebt der große Abschied.
Am Palmsamstag 2022 auf dem Programmzettel: Richard Wagners »Lohengrin«. Vergessen sind die Schlammschlachten der letzten Jahre zwischen den beiden Alphatieren. Die über die Medien wechselseitig abgeschossenen Spitzen. Es gilt heuer mit aller Macht der Kunst. Das österliche Festspielpublikum ist darob in fast grimmiger Feierlaune: wohl sind während der Aufführung FFP2-Masken zu tragen, wehen in der Innenstadt blaugelbe Ukraine-Banner von den Hotels und öffentlichen Gebäuden. Aber weder von Seuche noch von Krieg will man sich hier die ersten richtigen Osterfestspiele seit 2019 vermiesen lassen. Raus aus dem Schrank mit den eingemotteten Pelzen! Die Society-Fotografen warten in der Hofstallgasse auf neues Futter; die Kunstmesse ART&ANTIQUE in der Residenz hat nach der Zwangspause wieder geöffnet, die Aussteller hoffen auf dicke Portemonnaies, die in der Innenstadt herausgestellten Menütafeln der Restaurants sind voll von Champagner, Trüffel und Kaviar.
Es ist am besten in diesem Rahmen zu verstehen, was gestern Abend im Großen Festspielhaus ablief: ein Happening, nicht mehr und nicht weniger. Der Versuch des Regieteams, für so einen singulären Abend eine hintergründig verrätselte Arbeit auf die Bretter zu schieben, eine Arbeit, in der es keinen Schwan gibt (noch nicht mal eine Ente, wie Christian Thielemann witzelte), stattdessen vage Andeutungen von Schuld und ein Wechselspiel von Abhängigkeiten, psychologischem Wetterleuchten und gesellschaftlichen Psychosen, war sozusagen ein Scheitern mit Ansage.
Solide die Solisten, aber auch nicht wirklich außergewöhnlich in diesem Jahr, muss man leise konstatieren. Jacquelyn Wagner (Elsa) bleibt bei aller Zurückhaltung des Orchesters lange merkwürdig blass. Die Regie hat ihre Rolle teuflisch-hintergründig angelegt, aber das hört man leider nicht, und man sieht es auch nicht. Da spielen und singen sich Martin Gantner (Telramund) und Elena Pankratova (Ortrud) leidenschaftlicher und überzeugender in ihre schicksalsträchtigen Rollen hinein. Und der Schwanenritter? Der US-amerikanische Tenor Eric Cutler hält sich anfangs eher bedeckt und singt die lyrischen Elemente der Rolle aus. Seine Gralserzählung („Alljährlich naht vom Himmel eine Taube…“, 202:30) wird dann zum Meisterstück mit Belcanto-Schmelz. Amüsant fast, dass die Applausregie die Einstudierer des Sächsischen Staatsopernchores (André Kellinghaus), des Salzburger Bachchores (Christiane Büttig) und des Chors des Salzburger Landestheaters (Ines Kaun, Carl Philipp Fromherz) just in dem Moment auf die Bühne schickte, als das Publikum sich schon auf ein lustvolles Niederbuhen der Regie eingestimmt hatte. Sicher, die Chöre hatten bisweilen leicht geklappert oder waren für kurze Momente dem Orchester enteilt (etwa ab 63:00). Aber das dynamische Spiel und die insgesamt wunderbar dreigeeinte Stimmkraft der Chorsänger hätte diesen Wutsturm des angestachelten Festspielpublikums mitnichten verdient gehabt.
Und die Staatskapelle? Sie liefert zuverlässig, anders kann man es kaum bezeichnen. Druckvoll klang der Wagner gestern, bis an die Erschöpfungsgrenze der Trommelfelle heran. Mir fehlten die überirdischen, die übersinnlichen Färbungen. Aber an diesem Salzburger »Lohengrin« ist eben auch kaum etwas Überirdisches. Er verkörpert eine schiefe Massenhypnose und ist nicht viel mehr als die fantasievoll ausgeschmückte Ausrede einer Brudermörderin.
Das kulturentwöhnte Publikum wollte sich indes von seiner jubelnden Begeisterung über dieses Orchester und vor allem den wahren primo uomo des Abends nicht abbringen lassen. Wer wollte, konnte also gewisse psychologische Elemente der Bühnenhandlung im Saal widergespiegelt sehen. Vielleicht ist das die bittere, die wahre Pointe dieser »Lohengrin«-Inszenierung, an deren Ende ein düpierter Schwanenritter, ein „edler, holder Mann“, das betretene Volk im Regen stehen lässt und „unendlich traurig“ abtritt. Seine stolzen Insignien – Horn, Schwert und Ring – sind sichtlich viel zu mächtig für die bleiche, schlotternde Wasserleiche, die die schuldbeladene Elsa am Ende aus dem Schleusengraben zieht. Wie, dieser Zombie-Gottfried soll das Herzogtum Brabant in die Zukunft führen? Ach, was hatten wir an diesem sympathischen, kampferprobten Telramund…
Zweite Aufführung am 18. April; m0mentan sind noch circa 60 Restkarten ab 430,- EUR zu haben.