Krawattentausch mit Folgen in Schwarzweiß: »Zwei Krawatten« (Musik von Mischa Spoliansky zum Buch von Georg Kaiser) im zweiten Anlauf als Megarevue an der Staatsoperette.
Das ist eben so. Jede Treppe, die hinaufführt, führt auch wieder hinab, und das kann auch schon mal ganz tief unten sein. Aber erst mal geht es hinauf. Und erst mal geht er hoch, der eiserne Vorhang an der Staatsoperette, und dann ist sie da, die große Glückstreppe. Steil aufwärts zunächst. Und wie das alles so seine Bezüge hat mit den Glückstreppen, darauf wird immer wieder mal mehr oder weniger deutlich angespielt. Etwa auf jenen Zettel, dem ein damals noch DDR-Staatsoberer so ganz nebenbei entnahm, dass die Grenzen offen seien. Also, hoch mit dem Eisernen. Pardon, über die Mauer!
Gegenwärtiger wird es dann auf einer Überfahrt in die ganz große Freiheit. Für die Einen ist da schon Schluss auf den untersten Stufen. Anderen in den höheren Kreise dieser Glückstreppenspirale ist gar nicht klar, dass es so etwas gibt: oben und unten. Aber wir sind im Theater, in der Operette, hier wird aus dem 1929 in Berlin uraufgeführten Revuestück »Zwei Krawatten« bei vollstem Einsatz der Möglichkeiten des Dresdner Operettenkraftwerkes eine Revue vom großen Los. Das nämlich hat Jörn-Felix Alt als Kellner Jean in Berlin gezogen, als er für tausend Mark seine schwarze Krawatte, man kann auch Fliege dazu sagen, gegen die weiße eines verfolgten Hochstaplers tauscht. Und damit nicht genug. Jean zieht noch ein großes Los: Freifahrt auf dem Oberdeck ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo die Treppen des Glücks in den Himmel wachsen.
Aber vorher noch mal schnell ins Berliner Kneipenmilieu, wo Christian Clauss und Benjamin Pauquet mit spielerischem, augenzwinkerndem Charme (wovon man sich auch ansonsten etwas mehr gewünscht hätte) nicht gerade aus der Unterwelt auftauchen, aber die historischen Bierkästen aus dem Orchestergraben heraufwuchten. Hier nimmt Jean von seiner kleinen Trude (Devi-Anander Dahm) Abschied, und weil der sympathische Typ ja ein Gewissen hat – wie das bei Werktätigen so ist – im Moment sogar ein schlechtes, schenkt er ihr die tausend Mark. Und ab auf den Dampfer, an der Seite von Stefanie Dietrich als schrilles Abziehbild einer Gaga-Madonna-Dollarprinzessin. Silke Richter setzt dann als die Fleischfürstin von Chicago an Schrägheit noch eins drauf und ebenfalls zur Jagd auf den neuen Typen aus der Alten Welt an. Frischfleisch aus Berlin!
Na gut, am Ende geht es gut aus. Die Krawatten werden wieder getauscht. Die kleine Trude hatte sich für die tausend Mark nämlich das Schiffsticket gekauft, um nur in Jeans Nähe zu sein. Dass sie am Ende ganz oben auf der vermeintlichen Glückstreppe des Reichtums stehen wird, ahnt niemand, sie schon gar nicht. Aber Elmar Andree als so lautstarker wie aufdringlicher Anwalt Bannerman auf der Suche nach seiner Millionenerbin, die natürlich keine andere als Trude sein kann, ist ihr auf der Spur mit seiner roten Mappe und dem Koffer voller Scheine.
Das Pantomimenduo Wolfram von Bodecker und Alexander Neander sind dem Gauner auf der Spur. Marcus Günzel trägt aber noch die falsche Krawatte. Das wird sich ändern, wenn Jean den großen Treppenwitz endlich beendet, seine schwarze Krawatte zurückfordert und der Mann mit der weißen Krawatte nun keine weiße Weste mehr hat. Bis dahin können – einschließlich Pause – drei Stunden ganz schön lang werden. Unsere Glückssucherinnen und Glückssucher haben offensichtlich ihre Möglichkeiten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht gefunden. Sie können schönste Lieder davon singen, wie ein bestens eingestimmtes Herrenquintett mit künstlerischer Verneigung vor den Comedian Harmonists, für die jene goldenen zwanziger Jahre in Berlin gar nicht gut ausgingen, als sie sich braun einfärbten. Aber für Trude und Jean geht es gut aus, ganz sicher, wieder in Berlin, oder besser doch in Dresden, in der Staatsoperette.
Natürlich hat die Staatsoperette mit einem Künstler wie Jörn-Felix Alt gesanglich, tänzerisch und darstellerisch ein großes Los gezogen. Vielleicht wäre am Ende alles noch etwas besser ausgegangen, hätte der oft so übermäßig verstärkte Sound des Orchesters unter dem Antrieb von von Johannes Pell den klanglich sensiblen Momenten etwas mehr Raum gegeben. Etwa dem Chansoncharme von Christian Grygas, wenn er sein Coming-Out besingt, seine Zuneigung zum Pianisten am ramponierten Kneipenklavier. Und auch Marcus Günzel kann als Gauner ganz milde Töne des Herzens vernehmen lassen und sich dazu in elegantem Einklang tänzerisch bewegen. Ansonsten blieben die Stimmen der Sängerinnen und Sänger durch die allzu kräftige Verstärkung in ihrer Individualität leider recht eingeschränkt.
Die große Treppe auf der Bühne von Karoly Ritz ist dem Genre zuzuordnen, bleibt aber auch eine enorme Herausforderung für die Gesamtwirkung optischer Eindrücke und bremst mitunter sogar die Dynamik der Revue mit den Kostümen von Alexandre Corazzola. Dies gilt vor allem für die Choreografien von Volker Michl, bei totalem Einsatz der Tänzerinnen. Sie werden manches Mal zu statistischem Beiwerk. Schade.
Als Regisseur zieht Matthias Reichwald viele Register, immer wieder auch solche gewitzter Doppeldeutigkeit. Das bekommt dieser Megarevue gut, die ja erheblich durch andere Stücke von Spoliansky erweitert, vielleicht sogar doch auch aufgebauscht wird. Mitunter aber gerät die Regie wegen der damit verbundenen immensen, vor allem organisatorischen Herausforderungen, an die Grenzen und liefert sich der Organisation aus. Somit müssen leider auch Momente sensibler Dialogregie geopfert werden.
Einmal aber – und das ist wahrhaft eine große Szene – gibt sich Devi-Anander Dahm in ihrer eigentlich ganz herzlichen Bescheidenheit ihren Träumen hin. Das Pantomimenpaar lässt die Traumbilder entstehen, die Spiegelung im Gesicht der kleinen Trude ist einer ihrer großen Momente. Die Millionen im Koffer sind vergessen. Ihr Reichtum ist wohl doch von anderer Art. Die Armut als Reichtum des Gefühls – noch so ein schöner Operettentraum. Aber schön, dass auch unser Dresdner Operettenkraftwerk solche Träume immer wieder anheizt.