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„Es fällt schwer, Dresden loszulassen“

Foto: Jens Gerber

Omer Meir Wellber, wenn man bei Ihren Mozart-Interpretationen in den Graben schaut, sieht man die Musiker der Staatskapelle selig lächeln. Was ist das Geheimnis Ihrer Zusammenarbeit?

Es ist schon ein Geheimnis. Am Anfang war es nicht so einfach. Mein Ziel ist es, jeden Abend etwas anderes zu machen. Wenn das geht, ist das großartig. Nach zweihundert Vorstellungen versteht man sich blind, und die kleinen Variationen und Überraschungen sind unser ganzer Stolz. Unsere erste Mozart-Produktion war »Così fan tutte«, und es war wirklich schwer. Das Klavier in der Mitte des Orchesters war für die Musiker ungewohnt. Wir sehen uns nicht, wir hören uns nicht! Die Musiker haben alle meine kleinen ad-hoc-Improvisationen in die Noten geschrieben. Was am Anfang nach Chaos klang, ist heute, nach zehn Jahren, das Geheimnis unserer tiefen Freundschaft, es ist Tradition.

Das Chaos als künstlerisches Prinzip?

Ein bisschen Chaos ist wichtig. Heute ist es so, morgen anders. Für die Staatskapelle war es wirklich Chaos. Am Anfang kannten sie mich nicht so gut und wussten nicht, welche Qualität aus diesem Chaos entstehen kann. Bei den Proben lasse ich viele Sachen offen.

Warum?

Weil ich mich kenne. In der Vorstellung brauche ich viel Freiheit. Um diese Freiheit zu erreichen, kann ich mich auch in der Probe nicht festlegen. Sonst kommt es zu einer problematischen Situation. Wenn man eine geschlossene Interpretation probt und im Konzert etwas anderes machen will, dann beschweren sich hinterher alle. “Das war schneller, langsamer, wir sind nicht zusammen!” Bei einer abgeschlossenen Interpretation läuft man einfach Gefahr, dass das Orchester im Koma spielt, wie ein Automat. Das will ich nicht. Am Montag spielen wir beispielsweise wieder »Butterfly«. Und ich kann alles machen – schneller, langsamer… Das ist das Ergebnis unseres offenen Probenprozesses.

Und da gibt es für Sie keinen Unterschied zwischen Puccini und Mozart?

Natürlich gibt es einen großen Unterschied. Bei Puccini oder Strauss hat man weniger Freiheiten, weil so viel in den Noten steht. Aber bei Mozart brauche ich genau diese Leichtigkeit, diese Atmosphäre im Graben und auf der Bühne. Immer wenn ich in München oder Wien dirigiere, fragt man mich nach dem da-Ponte-Zyklus in Dresden. Diese Mozart-Opern sind an vielen Häusern Routine-Repertoire. Kleine Besetzung, relativ einfach, dreißig Vorstellungen pro Spielzeit und es verkauft sich immer. Wir haben genau diese Routine-Opern in einen Diamanten verwandelt. Und diese Qualität entsteht aus der Absage an die Routine; daraus, dass diese Opern jeden Abend neu sind und niemand sich auf die eigene Routine verlassen kann.

Sie machen Mozart nur in Dresden?

Lucas Meachem (Don Giovanni), Evan Hughes (Masetto). Foto: David Baltzer

Bis jetzt habe ich Mozart nur an der Semperoper dirigiert!

Haben Sie je eine Aufnahme dieses Diamanten in Betracht gezogen?

Ich weiß nicht mehr, was ich von Aufnahmen halte. Prinzipiell hätte ich Lust, aber bei unserer Herangehensweise wäre eine Aufnahme der Antichrist. Wie kann man etwas aufnehmen, was jeden Tag anders klingt. Da schießt man sich in den eigenen Fuß! Es ginge nur als Dokumentation. Man müsste schreiben: ‚Das ist ein Mitschnitt von der Aufführung am Tag X‘. Eigentlich verstößt das gegen das Konzept.

Das ist auch mein Höreindruck. Sie scheinen sich nicht am kristallklaren CD-Klang zu orientieren, sondern Sie setzen vielmehr auf eine Lebendigkeit und Musizierlust, die im Hier und Jetzt zündet. Kann damit jeder Sänger, jede Sängerin umgehen?

Für das kommende Wochenende könnte man sagen ‚more is possible‘. Wir haben nur Sänger eingeladen, die mit mir schon vier oder fünf Rollen in diesen Opern gemacht haben. Das ist ideal! Diese Opern sind Kammeropern. Für die Freiheit beispielsweise in den Rezitativen braucht man Zeit und muss sich sehr gut kennen. Für das Orchester ist das die hundertfünfzigste Vorstellung, für den Sänger ist es die erste. Die Maschine läuft schon und da ist es schwer, neue Sänger hineinzubringen. Da braucht man Sänger auf dem Top-Level.

Sie sprachen die Freiheit in den Rezitativen an. Sie machen da ja verrückte Dinge … Skalen, die an Ligeti denken lassen, Popmusik-Zitate, aber auch Slapstick, wenn Sie beispielsweise auf dem Hammerklavier Despinas Schneebesen-Schläge imitieren und dies später subtil als eine Art personales Leitmotiv aufgreifen. Engstirnige Werktreue ist nicht so Ihr Ding?

Alles von der Regie! Der Rezitativ ist der Modus, da kann ich detailliert auf die Bühne eingehen. Es ist niemals ‘casual’ – alles Spielerische ist inhaltlich begründet. Am stärksten ist das in »Le Nozze di Figaro«. Dem liegt eine durchdachte Konstruktion zugrunde. Jeder Akt hat seine eigene musikalische Sprache. Einer ist chromatisch, der andere eher modal. Da habe ich gemeinsam mit dem Regisseur Regeln entwickelt. Das entwickelt sich natürlich im Laufe der Jahre weiter. Der »Figaro« klingt vielleicht am verücktesten, aber er ist eigentlich wahnsinnig strukturiert. Ich weiß nicht, was ich genau spielen werde, aber ich weiß, in welchem Rahmen ich mich bewegen werde.

Und bei »Don Giovanni« und »Così«?

In »Don Giovanni« oder »Così« ist das freier. In »Così« benutzte ich eher musikalische Ideen, die auf die einzelne Figur oder den Moment reagieren. Das kann jeden Abend anders sein. Zum Beispiel entscheide ich mich spontan, dass ich Despinas Akkorde an diesem Abend auf eine ganz bestimmte Weise aufbreche oder verziere. Das ist sehr intuitiv, aber auch konsequent für einen bestimmten Abend.

Foto: Luca Pezzani

Im zweiten Akt bauen Sie »Yesterday« von den Beatles ein…

Yesterday ist perfekt für die Situation. Sie singen auch im Rezitativ, dass gestern alles besser war. Sie vergleichen zwei Situationen und bedauern den Verlust … 

Auch ein schönes Sinnbild für die Vergänglichkeit der Improvisation selbst!

Genau. In »Don Giovanni« benutzen wir zwei Instrumente: Hammerklavier und Cembalo. Das sind zwei gänzlich verschiedene Klangwelten. Wenn Don Giovanni lügt, begleitet ihn das Cembalo. Die Wahrheit ist auf dem Hammerklavier. Das eröffnet eine unglaubliche Klangpalette. Auf dem Cembalo, passend zur Lüge, ist alles ein bisschen chromatisch, wohingegen der Hammerklavier-Part eher diatonisch angelegt ist. In »Don Giovanni« spiele ich zum Beispiel Frank Sinatras »When I was 21«. Die Bühnensituation hat mich einfach an die Sopranos denken lassen. Die zweite Staffel beginnt mit einer unglaublichen Szene, in der man das ganze Personal der Serie sieht. Sie sprechen nicht, und man hört Sinatra im Hintergrund. Für mich sind die Sopranos vielleicht die beste Fernsehserie aller Zeiten. Das ist auf einer Ebene mit Beethovens »Neunter«, »Tristan« und »Faust«. »Don Giovanni« ist für mich Tony Soprano. Nichts funktioniert ohne ihn – er ist Katalysator und Problem zugleich. Don Giovanni ist die einzige Figur der Oper, die keine Arie hat. Das ist wahnsinnig modern. Er hat nur zwei Kleinigkeiten, das sind keine richtigen Arien. Die Hauptfigur der Oper hat keine Arie! Das ist genau wie Tony Soprano. Wir brauchen diese Figuren, wir wollen eigentlich ohne sie leben, aber sie sind die Motoren, die unser Leben kontrollieren und antreiben.

Auch im »Figaro« wechseln Sie nach zwei Akten auf dem Cembalo für den dritten Akt zum Hammerklavier, und dann kommt gegen Ende sogar noch das Akkordeon dazu. Was ist die Idee dahinter?

Das Konzept war, dass jeder Akt etwa hundert Jahre später spielt als der letzte. Wir beginnen mit der Comedia dell’arte, und am Ende sind wir in der Gegenwart. Deshalb sprechen die Sänger die Rezitative im dritten Akt. Sie unterhalten sich einfach, wie wir das gerade tun. Musikalisch machen wir genau diese Zeitreise. Wir beginnen mit dem Cembalo und zu Beginn des dritten Aktes sind wir etwa in der Romantik und da braucht man einfach das Hammerklavier. Für mich ist das logisch. Man reist also also nicht nur mit den Augen durch die Zeit, sondern auch mit den Ohren. Das Hammerklavier ist einfach etwas süßer, moderner als das Cembalo. Mit dem Akkordeon ist man dann gedanklich sofort in Paris. Ich begleite also dieses sexy Rezitativ von Cherubino und Barbarina mit einem Edith-Piaf-Chanson. Das versteht jeder! Und ich greife »La vie en rose« am Ende der Oper noch einmal auf. Das hat zu tun mit Paris und der französischen Revolution. Ich will aber auch diese spontane echte emotionale Assoziation des Publikums. Nach zwei Stunden Mozart ist dieses Akkordeon ein crack, ein klarer Bruch. Das ist stark und schön.

War es ihre Idee oder die Idee des Regisseurs Johannes Erath?

Ich habe keine Ideen. Wenn etwas klappt und sich etwas mit der Regie ergibt, ist das toll. Bei der »Butterfly« macht das keinen Unterschied, ob ich in zwei oder in dreißig szenischen Proben bin. Das ist geschlossen. Bei Mozart sind die Möglichkeiten einfach grenzenlos, da muss ich immer auf der Probe sein.

Sie sprechen es an, bei den vier Produktionen, die Sie gerade dirigieren, sieht man mit Erath, Kriegenburg und Miyamoto sehr unterschiedliche Regiehandschriften auf der Bühne. Welches Verhältnis haben Sie zur Regie?

Im da-Ponte Zyklus haben wir folgende Situation. Diese Wohnungen habe ich mit der ganzen Einrichtung gekauft. Die »Butterfly« hab ich nur gemietet. Es ist nicht dasselbe Gefühl, es ist nicht meine Wohnung. »Nozze« und »Così« sind wirklich meine Wohnungen, die habe ich komplett mit eingerichtet. Das liegt zum einen an dem pandemiebedingt langgezogenen Probenprozess der »Butterfly«, es ist aber auch nicht ganz mein Einrichtungsgeschmack. Aber man lebt auch sehr gut in Mietwohnungen.

Mal was anderes, ein Tapetenwechsel!

Genau!

Ein ganz anderer Tapetenwechsel steht bei Ihnen beruflich an. Mit Beginn der nächsten Spielzeit übernehmen Sie den Chefposten an der Wiener Volksoper. Vielleicht ein guter Moment, einmal über den Klang der Staatskapelle zu sprechen.

Rachel Willis-Sørensen (Fiordiligi), Christopher Tiesi (Ferrando) in »Così fan tutte« (Foto: Matthias Creutziger)

Die Staatskapelle hat immer noch ihren ganz eigenen Klang. Genau deswegen habe ich mich auch dazu entschlossen, nach Wien zu gehen. Dort ist man auch sehr stolz auf die eigene Tradition, genau wie in Dresden. Ich finde das sehr schön. Ich finde den internationalen Klang sehr langweilig. Das hat nichts mit Kunst zu tun. Ein Orchester wie die Staatskapelle sagt beispielsweise, sie wollen nur Musiker und Musikerinnen, die im Osten ausgebildet sind. Das ist nicht gegen jemand anderen gerichtet. Da geht es um unsere Tradition, unseren Klang. Ideal wäre es, wenn der Schüler des Solofagottisten ins Orchester kommt. Ein sehr guter Schüler natürlich. Ich sehe darin kein Problem! Ein Orchester wie die Berliner Philharmoniker können das nicht mehr machen, sie haben einfach keinen spezifischen Klang mehr.

Wie würden Sie diesen spezifischen Dresdner Klang beschreiben?

In Dresden, aber auch am Gewandhaus, gibt es eine besondere Klangtradition bei den Streichern. Das sind ganz viele Details: die Bogenführung, das Vibrato, das ist ein komplexes Zusammenspiel vieler Dinge. Es ist schwer zu beschreiben. Es ist wunderschön, süß und rund. Das kann auch problematisch werden. Wenn man in Dresden Schostakowitsch, Mahler oder Puccini spielt, klingt es immer wie Brahms. Im letzten Sinfoniekonzert haben wir Schostakowitsch 6. Sinfonie gespielt. Wir mussten wirklich daran arbeiten, hässlich, an der Grenze zu spielen.

Ihr Mozart klingt definitiv nicht wie Brahms. Er ist historisch informiert und doch modern gedacht. Wie verstehen Sie das Verhältnis von Tradition und Gegenwart?

Das ist sehr einfach. Wenn ich etwas schön finde, dann nehm ich das einfach. Das können in einem Takt drei verschiedene Sachen sein. Manche Arien spielen wir ohne Vibrato, manche mit sehr viel Vibrato. Ich komme aus einer Schule, in der die subjektive Schönheit das Wichtigste für einen Künstler ist. Objektivität ist keine künstlerische Kategorie. Ich finde es nicht unbedingt interessant, wie Mozart das gemacht haben mag oder wie das 1758 geklungen hat. I just really don’t care! Das ist wissenschaftlich interessant, aber nicht beim Musizieren. Die historische Aufführungsweise ist ein Prophet der Vergangenheit. Aber ein Prophet sollte doch in die Zukunft schauen. Wir haben trotzdem wahnsinnig viel gelernt von der historischen Aufführungspraxis. Ein Mozart Requiem mit sechs Bässen, acht Celli und vierzehn Geigen klingt einfach altmodisch. Wenn ich heute eine Aufnahme von Karajan in verdoppelter Besetzung höre, klingt das für mich nur komisch. Das Mozart-Requiem mit Manfred Honeck letzte Woche war einfach fantastisch. Wie gesagt, ich benutze alles, aber es muss schön sein!

Sie reduzieren Ihre Auftritte in Dresden mit Beginn der nächsten Spielzeit beträchtlich. Sie wollen sich ganz Ihrer neuen Aufgabe in Wien widmen?

Dresden war und ist mir sehr wichtig. Wenn ich über die ersten zwanzig Jahre meiner Karriere nachdenke, waren Barenboim und die Semperoper wichtige Inspirationen. Es fällt schwer loszulassen. Ich fühle mich in Dresden wirklich zu Hause. Natürlich komme ich wieder. Es ist kein Ende, es wird nur weniger. Ich will mich erst einmal auf die Volksoper konzentrieren. Wir haben wahninnig viel vor.

Mozart-Tage 2022 

»Don Giovanni« am 15. April 2022 um 18 Uhr
Inszenierung: Andreas Kriegenburg
Mit Anita Hartig, Tuuli Takala, Anke Voldung, Lawson Anderson, Lucas Meachem, Joel Prieto, Tilmann Rönnebeck und Erwin Schrott

Anlässlich der »Don Giovanni«-Aufführung am 15. April 2022 nimmt Omer Meir Wellber, der noch bis zum Ende der Spielzeit 2021/22 den Titel des Ersten Gastdirigenten der Semperoper Dresden innehat, den Preis der Stiftung Semperoper – Förderstiftung in Anerkennung seiner künstlerischen Leistungen und seiner engen Verbundenheit mit der Semperoper entgegen.

Bereits 2020 ehrte die Stiftung Semperoper – Förderstiftung den Künstler mit dem jährlich vergebenen und mit 10.000 Euro dotierten »Rudi-Häussler-Preis«. Aufgrund der Corona-Pandemie konnte die Verleihung während der eigentlich geplanten Operngala jedoch nicht stattfinden, sodass die Stiftung unter ihrem Stiftungsratsvorsitzender, Prof. Dr. Rüdiger Grube, die »Mozart-Tage 2022« der Semperoper als ein dem Anlass entsprechenden Rahmen für die Preisübergabe an Omer Meir Wellber nutzt. 

»Le nozze di Figaro/Die Hochzeit des Figaro« am 16. April 2022 um 19 Uhr
Inszenierung: Johannes Erath
Mit Peter Mattei, Hila Baggio, Michal Doron, Katharina Flade, Julia Kleiter, Christiane Neumann, Stepanka Pucalkova, Mariya Taniguchi, Simeon Esper, Rupert Grössinger, Omar Montanari, Timothy Oliver und Erwin Schrott

»Così fan tutte« am 17. April 2022 um 17 Uhr
Inszenierung: Andreas Kriegenburg
Mit Heidi Stober, Cecilia Molinari, Katerina von Benningsen, Ioan Hotea, Mario Cassi, Omar Montanari