„Drin ein Gefäß von wundertät’gem Segen, wird dort als höchstes Heiligtum bewacht“. Welcher Text? Richtig, das ist der Beginn der Pressemeldung der 45. ART&ANTIQUE, Salzburgs traditionsreichster und bedeutendster Messe für Kunst, Antiquitäten und Design. Für eingefleischte Salzburg-Fans gehört ein Besuch der Messe, die ihre Kern-Zielgruppe laut Factsheet vor allem im Bereich „Investment- und prof. Privatsammler, Künstler, Banken + Versicherungen, Architekten, Ärzte + Rechtsanwälte“ sieht, unbedingt dazu. Die letzte Veranstaltung 2019, also „zu Friedenszeiten“ – den Ausdruck hörte ich während der diesjährigen Osterfestspiele öfter bitter-ironisch eingestreut, wobei sowohl die Corona-Krise als auch der russische Einmarsch in die Ukraine mitschwingen – zählte 14.000 Besucher. In den vergangenen Tagen dürften es mindestens ebensoviele gewesen sein, die die Prunkräume der Salzburger Residenz fluteten, nach der langen, „kulturlosen“ Coronakrise dankbar die zum Kauf ausgestellten Werke von Gustav Klimt (allein die Taxen für Bleistiftskizzen zumeist im fünf- bis sechsstelligen Bereich), Picasso, Warhol, Miró, Marc Chagall oder Alfons Walde begutachteten und das ein oder andere Schnäppchen, etwa „für unsere Zweitwohnung hier in Salzburg“, mitnahmen.
Es ist vor allem auch dieses Publikum, das die Dresdner Staatskapelle 2013 vorfand, als sie unter ihrem neuen Chefdirigenten Christian Thielemann ihre neue österliche Residenz an der Salzach antrat: ein internationales Jetset-Publikum, das alljährlich zu Ostern nach Salzburg anreist und Kultur im weitesten Sinne genießen möchte. Die Salzburger Restaurants, Läden, Galerien und Museen wissen sich auf diese touristische Zielgruppe einzustellen; die Stadt tickt zu Ostern ganz im Takt der prestigeträchtigen Festspiele und bietet ein stimmiges kulturelles Gesamterlebnis, das auch heute noch um die Aura Herbert von Karajans kreist. Karajans Witwe Eliette war es, die die Dresdner 2013 in Salzburg öffentlich willkommen hieß. Mit der Tochter Isabel Karajan, einer Schauspielerin, verbindet die Staatskapelle seit einigen Jahren eine künstlerische Partnerschaft. Ihre vier Jahre jüngere Schwester Arabel überreichte der Staatskapelle letzte Woche den Herbert-von-Karajan-Preis der Osterfestspiele. Und Thielemann, ehemals Assistent Karajans und 1981 erstmals bei den Osterfestspielen dabei, füllte die Rolle des musikalischen Erben und Sachwalters aus. Ach was – sagen wir doch gleich Gralshüter!
Es ist also nur verständlich, wenn auch das Dresdner Orchester in den letzten zehn Jahren oft und gern auf seine Beziehungen zu Herbert von Karajan verwies. Dass der Ururopa Georg Karajan vom ersten sächsischen König Friedrich August I. in den Adelsstand erhoben wurde: lange her. Aber die Zuschreibung Karajans, im Dresdner Orchesterklang sei der „Glanz von altem Gold“ zu hören, das passte natürlich auch wunderbar in die Salzburger Ära, und wurde dementsprechend oft in Programmheften und Medienberichten zitiert. Die Marke Staatskapelle und die Marke Thielemann gewannen durch die Salzburger Liaison weiter an Wert.
Bei all dem Zinnober, den vorm »Te Deum« gereichten Champagnerflöten, dem Pausengeplänkel der pelzbesetzten Damen und den lächerlichen Auftritten mancher C-Promis hat die Staatskapelle ihre künstlerische Residenz immer ernst genommen. Wie auch immer der szenische Anteil der Opernvorstellungen beim Publikum wegkam: musikalisch, da war sich nicht zuletzt die internationale Kritikerriege einig, liefen die Osterfestspiele während der Dresdner Dekade zu Höchstform auf. Dabei darf nicht vergessen werden, dass dem genusssüchtigen Publikum vor allem während der Intendanz Peter Ruzickas so manches easter egg untergeschoben wurde und die zeitgenössische Musik wie selbstverständlich mit in den Konzertreigen aufgenommen wurde. Dezidiert wurden Schwerpunkte beim jüngeren Publikum gesetzt; die »Kapelle for Kids« kümmerte sich um Salzburger Schulkinder, und die Kapelle durfte zwischen den beiden publikumsheischenden Vorstellungen von Opern-Klassikern durchaus auch mit abseitigem Repertoire glänzen.
Das musste man indes im Abschlussjahrgang mit der Lupe suchen zwischen einer dicht und unerwartet temporeich musizierten »Alpensinfonie« op.64 (unter Thielemann), Bruckners »Neunter« (ebenfalls unter Thielemann) und dem Beethovenschen Tripelkonzert (Wollong/Anger/Chung); Programme, die in der Dresdner Konzertsaison schon erklungen waren. Leider entfiel krankheitsbedingt Béla Bartóks Streichquartett Nr. 1 a-Moll beim »Kammerkonzert I«, auf das ich mich aus verschiedenen Gründen gefreut hatte. Es wäre in seiner todtraurigen Abschieds-Metaphorik im Wagnerschen Stil der kluge kammermusikalische Kontrapunkt zum 2022er Programm gewesen (und wurde schelmisch-hintergründigerweise durch Mozarts »Dissonanzen-Quartett« ersetzt).
Womit wir beim allesbeherrschenden Thema der Osterfestspiele Salzburg 2022 angekommen wären: dem durchweg schmerzlich empfundenen Abschied der Dresdner, beziehungsweise den vermuteten Gründen dafür. Die schwerwiegenden Dissonanzen zwischen Christian Thielemann und Nikolaus Bachler sind der augenfälligste Grund, natürlich. Das Tischtuch zwischen den zwei künstlerischen Schwergewichten war 2019 zerschnitten, der Abschied schon damals unausweichlich. Am Ende hieß es von Christian Thielemann nur noch: das Wichtigste sei, „dass man in einem Moment geht, in dem alle es bedauern.“
Christine Lemke-Matwey hat einmal das Bild beschrieben, das von Karajan inzwischen vorherrscht; er sei „eine Art Gunter Sachs der klassischen Musik“ gewesen. Das traditionelle Publikum der Osterfestspiele Salzburg kann mit dieser Zuschreibung offenbar gut leben (eigentlich ein Treppenwitz, dass am Ostersamstag unweit des Großen Festspielhauses eine Gunter-Sachs-Ausstellung öffnete – die ausgestellten Werke wirkten hochnotpeinlich aus der Zeit gefallen und hätten in Berlin oder sogar in Hamburg, wo Sachs vor fünfzig Jahren Warhol ausstellte, für Entrüstung gesorgt) und hätte wohl auch gern den Erbfolger Christian Thielemann und damit auch die eigenen musikalischen Vorlieben weiter gefeiert. Anspruchsvolle Regiearbeiten, Neudeutungen klassischer Stoffe, hintergründige und gegen den Strich gebürstete Programme werden dagegen mit Unverständnis bis Missfallen bedacht – die Exklusivität der sich konservativ gebenden Festspiele, die Höhe der Kartenpreise muss in den Rezensionen der letzten Tage quasi schulterzuckend als Erklärung dafür herhalten („Wer knapp 500 Euro pro Karte zahlt, will nicht brüskiert werden, sondern bestens unterhalten„).
Nikolaus Bachler wird mutmaßen, dass diese Art trotzig-konservativen Kulturgenusses in unserer heutigen Welt kaum noch eine Perspektive hat. „Es gibt keine Karajan-Figur mehr“, diktierte der neue Intendant dem Kollegen Michael Ernst in den Block (s. Interview „Herr Thielemann und ich sind Profis“, heute in den Dresdner Neuesten Nachrichten). Eine Neuausrichtung der Osterfestspiele sei notwendig, denn „die Welt ist eine andere geworden“. Bachler verzichtet sozusagen noch auf den Pflichtteil des künstlerischen Erbes der Karajanschen Osterfestspiele, wenn er das Festival nun radikal neu ausrichtet, Tanz und elektronische Musik hinzufügt und streitbare Regisseure einlädt. In Salzburg erlischt damit nach fünfundfünfzig Jahren eine Tradition, unwiederbringlich. Man kann das bedauern – aber auch als Zeichen eines Aufbruchs sehen in eine neue Ära der international ausgerichteten, neugierig aufgeschlossenen, wahrlich zeitgenössisch-aufgeklärten Rezeption von Kultur ohne Chi-chi, Kitsch und Sentimentalitäten. „Kinder, schafft Neues!“