Der Orchesterdirektor der Sächsischen Staatskapelle, Adrian Jones, im Gespräch über die zukünftige künstlerische Ausrichtung des Orchesters und die Suche nach einem neuen Chefdirigenten.
Adrian Jones, wer die Begeisterung des Salzburger Publikums erlebt, muss sich fragen: warum muss die Dresdner Ära eigentlich überhaupt enden?
Es ist eine wunderbare Verbindung, die wir hier erleben: die drei Partner sind die Salzburgerinnen und Salzburger, die Staatskapelle und ihr Chefdirigent. Die außerordentlichen Sympathien, die Christian Thielemann entgegengebracht werden, sind neben seiner einmaligen künstlerischen Qualität, die ihn stets auszeichnet, auch noch anders zu erklären: er kam erstmals 1981 als Assistent von Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern zu den Osterfestspielen, seine Karriere ist von Karajan geprägt, er führt quasi dessen Tradition weiter – nur eben jetzt mit einem neuen Partner, der Staatskapelle. Die Salzburger verstehen, dass das ein absolutes Qualitätsmerkmal ist. Und auch die Staatskapelle kann sich hier in Salzburg hervorbringen, ihr musikalisches Können beweisen und ihre Eigenständigkeit als Exzellenzorchester betonen.
Also noch mal, warum muss diese Ménage-à-trois eigentlich enden?
Ich frage mich das die ganze Zeit. Diese Ménage ist doch auch extrem kostbar, das wirft man nicht einfach weg.
Zwischen Bachler und Thielemann ist ja viel Porzellan zerbrochen worden. Als Thielemann eine Zusammenarbeit mit Bachler 2019 kategorisch ausschloss, teilte der Orchestervorstand per Pressemeldung vorsichtshalber mit, man blicke „mit großer Zuversicht und Freude auf die kommenden Festspieljahre“ – quasi notfalls auch ohne Thielemann.
Einige hatten damals offenbar das Gefühl, dass eine Staatskapelle Dresden nicht ohne Christian Thielemann bestehen kann. In der Vergangenheit haben wir immer wieder auch mit Gastdirigenten hier auf höchstem künstlerischen Niveau arbeiten können, das haben auch die Konzerte dieses Jahr unter Myung-Whun Chung und Tugan Sokhiev erneut gezeigt.
Die Mitglieder der Staatskapelle betonen, wie gut dieses intensive künstlerische Ferienlager dem Zusammenhalt und der spielerischen Qualität des Orchesters tut.
Ich würde eher von einem Trainingslager sprechen, und ich bewundere, mit welcher Leistung die Musiker diese Tage wegstecken. Samstag ein »Lohengrin«, tags drauf eine intensive »Leningrader Sinfonie«; die steckt quasi noch in den Knochen, wenn man am nächsten Abend die »Alpensinfonie« spielt, und zwischendurch tatsächlich noch ein Kammerkonzert! Wahnsinn. Nach diesen Wochen bräuchten alle eigentlich erstmal Urlaub, aber in Dresden geht es schließlich sofort weiter.
Es ist aber auch berührend zu sehen, wie das Orchester und seine Dirigenten hier im letzten Jahr der Residenz angespornt und begeistert gefeiert werden.
Ich frage im Foyer manchmal Leute, die mich nicht kennen, warum es hier so einen Applaus gibt? An den Reaktionen auf meine Frage merkte ich: das ist richtig ‚Community Building‘. Wir sind in dieser Stadt verankert. Die Musiker kommen teilweise seit Jahren bei denselben Gastfamilien unter. Mich hat diese Anbindung an die Stadt überrascht. Ich hatte gehört, die Osterfestspiele hätten doch mit Salzburg gar nichts zu tun, die Salzburger interessierten sich gar nicht für diesen Touristen-Satelliten. Das stimmt augenscheinlich nicht! Vielleicht haben auch unsere Konzertformate wie das kostengünstigere Konzert für Salzburg oder „Ohne Frack auf Tour“, die Beisltour, diese Beziehung erwärmt. So ist die Kapelle eben, sehr bodenständig und zugänglich. Diese Osterfestspiele waren ein „Grassroot“-Event, die kamen von unten, ganz bescheiden.
Ein Grassroot-Event mit gepfefferten Preisen natürlich. Finanziell standen die Osterfestspiele in den letzten Jahren vor Corona bestens da, war von Thielemann 2019 zu hören. Dennoch setzt der neue Intendant ab 2023 nun auf ein komplett anderes Konzept mit wechselnden Gastorchestern.
Was ich 2019 wahrgenommen habe, war ein Konflikt zwischen zwei Personen, der inzwischen beigelegt ist. Er hat leider eine Krise ausgelöst, in der es am Ende nur Verlierer gibt. Ich habe nämlich nicht das Gefühl, dass das, was nun kommt, besser sei. Ein solch radikaler Neustart wäre aus Dresdner Sicht nicht nötig gewesen. Die Programme des nächsten Jahres erinnern zum Beispiel ein wenig an das, was die Kapelle geboten hat, übrigens jedes Jahr ihrerseits mit zwei bis drei Gastdirigenten: Opernproduktionen, Konzerte, Kammermusik, nur eben nicht durchgängig auf dem Niveau des Residenzorchesters. Die Exklusivität der Koproduktionen mit Wien oder Dresden: das fand ich spannend. Und die fehlt mir, wenn ich in die Zukunft schaue.
Sie klingen ganz schön enttäuscht.
Unbedingt, das ist gar keine Frage. Aber mit diesem Festivalprogramm 2022 möchten wir vor allem Danke sagen – und vor allem, wir möchten uns auf bestem Niveau verabschieden. Wenn dann im nächsten Jahr das uns freundschaftlich verbundene Gewandhausorchester übernimmt, werden die Salzburgerinnen und Salzburger sicher ebenfalls viele musikalische Glanzpunkte erleben. Die Verbindungen zwischen unseren beiden Klangkörpern sind ja vielfältig, unter anderem findet jährlich ein Austausch-Kammerkonzert in Leipzig und Dresden statt und gab es gemeinsame Konzerte unter der Leitung unseres beidseitigen ehemaligen Chef- und heutigen Ehrendirigenten Herbert Blomstedt. Aber ein Abschied ist immer mit ein wenig Wehmut verbunden. Diese Immersion, dieses Mittendrinsein hier im Frühling in Salzburg… Ich kann nachvollziehen, dass das viele vermissen werden.
Thielemanns Amtsantritt in Dresden fiel 2012 ja quasi mit der Ernennung zum Künstlerischen Leiter der Osterfestspiele zusammen. Wie, würden Sie sagen, hat sich der Klang der Staatskapelle in der zurückliegenden Dekade verändert?
Ich glaube nicht, dass er sich so sehr verändert hat. Neue Kollegen, die hinter dem Vorhang vorspielen, werden doch nach eben diesem Klang ausgesucht. Da kommt es auf die Tongebung an, das Vibrato, den Spielstil, die Frage, wie man einen Takt eigentlich ausfüllt? Ein Kapellmusiker hat kürzlich einmal formuliert, man müsse quasi jeden Ton zelebrieren, bis der nächste kommt.
Interessant. Also, darf ich Ihnen da ein bisschen widersprechen? Ich meine schon eine deutliche Entwicklung zu hören in den letzten zehn Jahren. Der Orchesterklang ist doch nicht museal zu verstehen, man muss ihn nicht vor Veränderungen beschützen. Ein gutes Orchester nimmt in seinem Klang auf, was in der Welt passiert. Genauso wie wir Hörer ein Konzert auch in einen aktuellen Kontext eingebettet wahrnehmen. Denken Sie nur an die Schostakowitsch-Sinfonie vorgestern. Das Publikum hat dieses Werk vielleicht noch nie so eindringlich, so direkt nachfühlen können. Das Orchester hat dieses Werk vielleicht noch nie so dicht, so schonungslos und quasi verzweifelt schön gespielt.
Da haben Sie recht. Bei Sokhievs Interpretation fand ich spannend, dass wir einen Schostakowitsch gehört haben, der unfassbar klangschön war. Man hört das oft so schroff und martialisch. Die Staatskapelle kann diese komplexe Klangvorstellung natürlich auch bedienen. Diese weichen, zarten Stellen. Das hat dann vielleicht doch mit der Geschichte zu tun, mit dem Abrufen von Tradition. Also, vielleicht könnte man sagen, Christian Thielemann hat in den letzten zehn Jahren das Orchester geprägt, indem er es wunderbar vermocht hat, eben diesen spezifischen Klang abzurufen. Zum Beispiel in der »Alpensinfonie«: hier ging es in der jüngsten Interpretation letztlich auch hörbar um tiefe Abgründe.
Ein bisschen Abschied habe ich auch gehört.
Ja, stimmt. Es war ein bisschen „lasst uns das noch zusammen auskosten“ dabei. Aber da haben wir dieses Jahr auch einfach die perfekten Stücke dafür, den Bruckner, die der Staatskapelle gewidmete »Alpensinfonie«, den »Lohengrin«… In der Musik ist einfach alles gesagt. Und man hört doch stets am Applaus, dass die Liebe immer noch gegenseitig ist. Die Leute fragen uns jeden Tag, warum geht ihr eigentlich?
Die Salzburg-Ära geht also zu Ende, der Vertrag des Chefdirigenten ist nicht verlängert worden. Wie planen Sie die kommenden Jahre für die Kapelle?
Wir haben mit Christian Thielemann wunderschöne Programme bis 2023/24 geplant, und fantastische gemeinsame Projekte, wo beide Seiten ein ganz klares Bekenntnis zueinander abgegeben haben.
Auch da könnte man sich natürlich fragen, warum diese Liebe enden muss. Steht das Orchester denn nicht mehr geschlossen hinter ihm?
Die Entscheidung, Christian Thielemann nicht zu verlängern, war eine Entscheidung der Politik. Die nun verbleibende Zeit mit unserem Chefdirigenten werden wir bestmöglich qualitativ zu Ende bringen, künstlerisch und auch menschlich. Dass die Kapelle nicht unter Druck kommt und sich die Zeit nehmen darf, die sie benötigt, um die Nachfolge zu regeln. Diese Zeit will ich nicht definieren. Wenn wir auf die letzten 473 Jahre schauen, müssen wir uns da keinen Stress machen. Auch für das Abschiednehmen nach einer so intensiven gemeinsamen Zeit muss man Ruhe haben.
Lassen Sie sich bei der Dirigentensuche ein bisschen in die Karten gucken? Wie funktioniert so etwas eigentlich genau?
Wir haben von der Politik ein Versprechen bekommen: wer Thielemanns Nachfolge antritt, das darf und wird allein eine Kapellentscheidung sein. Dieser Prozess liegt nun bei der Kapelle. Sie bespricht und entscheidet in einem geschlossenen Kreis.
Also lieber erst einmal führungslos bleiben, wenn es nicht auf Anhieb kribbelt?
Führungslos würde ich nicht sagen, cheflos wäre das richtige Wort. Ja, das ist nicht auszuschließen. Wenn nicht der richtige Kandidat in Sicht ist…
Beraten Sie sich in dieser Sache auch mit der zukünftigen Semperopern-Intendantin?
In jeder Diskussion ist es sinnvoll, sich in Ruhe auszutauschen. Frau Schmid ist da bisher sehr kommunikativ.
Und wenn wir einmal über den Dresdner Tellerrand hinausblicken, wie plant sich die Staatskapelle da zukünftig aufzustellen?
Die Tourneetätigkeit wird für das Orchester weiter eine Rolle spielen. Es wird nach Corona weniger reisende Orchester geben, aber die Kapelle wird dabei sein. Der asiatische Markt hat nach wie vor ein großes Interesse an uns. Und in Europa eruieren wir, wo Lücken entstanden sind, damit wir zukünftig vielleicht auch nicht mehr so oft so weit reisen müssen – Stichwort ‚Grünes Orchester‘.
Wird es auch wieder feste Residenzen geben wie in Salzburg – also Orte, wo sich das Orchester quasi ein zweites Zuhause aufbaut?
Das wäre aus den bereits genannten Gründen wirklich zu begrüßen und ist nicht außerhalb unserer Vorstellung. Wir führen tatsächlich bereits Gespräche dazu.