Obwohl in der Schlosskapelle zur Zeit die großflächigen Entwürfe des unteren Altan-Gemäldes für die Loggia im Großen Schlosshof, nämlich wie Saulus zu Paulus wurde, von Kohlezeichnungen zur farbigen Ausführung vorbereitet werden, hat das Sächsische Immobilien- und Baumanagement freundlicherweise den Raum für eine Woche vom 2.-8. Mai für Konzerte freigegeben. So kann im Jahre der 350. Wiederkehr des Todestages von Heinrich Schütz der Ort einbezogen werden, an dem der Hofkapellmeister von 1615 bis 1672 den Großteil seiner geistlichen Werke aufgeführt hatte. Veranstalter dieses Barock.Musik.Festes waren die Mitteldeutsche Barockmusik e.V., Dr. Christina Siegfried, Intendantin des Heinrich-Schütz-Musikfestes und Schütz22 – »weil ich lebe« sowie Dr. Katrin Bemmann, Geschäftsführerin der Dresdner Hofmusik e.V.
In acht Veranstaltungen in Dresden – weitere finden in Bad Köstritz, Zeitz und Leipzig statt – steht zwar die Musik von Schütz im Mittelpunkt, wird aber über die Konzerte hinaus in einer Kompositionswerkstatt, einem Symposium und einer Kreuzchor-Vesper in einen Dialog zwischen Alt und Neu mit mehreren Uraufführungen gestellt, ganz im Sinne des Jubilars, der zeit seines Lebens für alle neuen musikalischen Strömungen, besonders in Italien, offen war.
Der Bau der Schlosskapelle, nach der Torgauer Schlosskapelle die zweite protestantische Kirche in Sachsen, wurde 1551 von Kurfürst Moritz befohlen, da er als Landesherr zugleich das Oberhaupt der evangelischen Gläubigen war und einer Hauptkirche bedurfte, deren Hofprediger die ersten Autoritäten in Glaubensfragen waren. 1737 wurde in einem geordneten Verfahren zwischen Oberkonsistorium und kurfürstlich-königlichem Hof die Auflassung der Kapelle verfügt, da für das katholische Herrscherpaar König August III. und Maria Josepha die neue, repräsentative Hofkirche gebaut wurde. Die evangelischen Hof-Gottesdienste fanden nunmehr in der Sophien-Kirche statt – bis 1918. Anstelle der Kapelle wurden Wohn- und Arbeitsräume, u.a. für das „Gesamtministerium“ im 19. Jahrhundert geschaffen. Mit der Zerstörung des Schlosses 1945 verschwand auch die Erinnerung an diesen Raum. Im Zuge des Wiederaufbaus des Schlosses wurde schon nach 1986 die Kubatur der Schlosskapelle wiederhergestellt, ohne dass zunächst an weitere Planungen gedacht werden konnte. Doch innerhalb der originalgetreuen Rekonstruktion besonderer Raumensembles im Schloss wie Grünes Gewölbe, Englische Treppe oder dem Westflügel gelang es zwischen 2009 und 2013, nachdem die Bauweise des Schlingrippengewölbes entschlüsselt worden war, eine bauliche Grundlage für weitere Überlegungen zu schaffen. 2021 wurde durch SIB eine Planung vorgelegt, die eine multifunktionale Nutzung der Schlosskapelle mit besonderem Schwerpunkt von Musikaufführungen vorsieht. Dazu gehören der Einbau von Orgel- und Choremporen, die für Aufführungen von Musik von Schütz und anderen Komponisten unabdingbar sind. Dies sind wichtige Voraussetzungen für die folgenden Ausführungen:
Nach einer stilvollen Eröffnung unter anderem mit Kleinen Geistlichen Konzerten von Schütz und Bernhard sowie Orgel-Canzonen von Hassler, dargeboten von Heide Taubert (Sopran), Ulla Hoffmann (Violone) und Kreuzorganist Holger Gehring, wurden im Symposium »Bezugspunkt Schlosskapelle« Fragen der Bau-, Religions- und Musikgeschichte thematisiert. Arno Paduch, Vorsitzender der Internationalen Heinrich-Schütz-Gesellschaft und erfahrener Interpret Alter Musik, wies im Beitrag »Schütz und das Positiv« nach, dass, wenn Schütz in den Titeln seiner Zyklen Orgel schrieb, er nicht die große Fritzsche-Orgel von 1612 meinte, deren Bassregister wegen fehlender Töne die Continuo-Stimme nicht durchgängig spielen konnte, sondern durchweg Orgelpositive. Anschaulich stellte Paduch anhand zeitgenössischer Stiche dar, dass in Venedig, wo Schütz bei seinem Lehrer Giovanni Gabrieli Komposition studierte, im Chorraum des Dome San Marco ausschließlich mehrere Positive für die bekannte venezianische Mehrchörigkeit verwendet wurden. Die bescheidenere Variante war der Einbau von zwei Positiven, die Schütz erst 1662 in der Schlosskapelle durchsetzen konnte, obwohl er vermutlich seit den »Psalmen Davids« (1619) immer transportable Positive aufstellen ließ. In einer Mitteilung an den Schreiber dieser Zeilen wies Arno Paduch darauf hin, dass Wolfram Steude in einen früheren Artikel zum »Veni sancte Spiritus« von Schütz die Positionen der verschiedenen Chöre angegeben hat, eine ist ausdrücklich mit Positif bezeichnet. Steude identifizierte die verschiedenen Positionen als Plätze in der Schlosskapelle. Die Kapelle dürfte über mehrere transportable Instrumente verfügt haben, musste sie doch gelegentlich auch an Orten musizieren, an denen keine Orgel vorhanden waren, bzw. von denen man vorab nicht wusste – beispielsweise auf der Huldigungsreise nach Schlesien oder zu den Kurfürsten- und Fürstentagen in Mühlhausen –, ob die vorhandenen Instrumente überhaupt die richtige Stimmtonhöhe beziehungsweise Temperierung hatte. Diese wichtigen aufführungspraktische Hinweise sind bedenkenswerte Argumente für eine künftige feste Ausstattung der Schlosskapelle mit Instrumenten.
David Wendland ging in seinem Vortrag »Kunstvolle gotische Gewölbedecken in der Renaissance« einer für uns Heutige eigenartigen Definition von Modern und Antik nach: Für die Bauhütten des frühen 16. Jahrhunderts war die gotische Bauweise zum Beispiel des Schlingrippengewölbes „modern“, die Aufnahme römischer Säulen wie die korinthischen Säulen in der Schlosskapelle galt als „antik“, war aber Teil der zeitgenössischen Renaissance-Architektur. Die Kenner der antiken Bauten in Rom stellten Musterbücher mit Modellen der Antike zusammen, die nunmehr in ganz Europa verbreitet waren. So gehört auch der Stil der Schlosskapelle zur „modernsten“ Architektur-Sprache dieser Zeit.
Friederike Böcher aus Bad Köstritz hoffte, dass niemand auf die Idee kommt, diesen Raum „Schützkapelle“ zu nennen, denn sie zählte die vielen Komponisten auf, die für diesen Raum interessante Werke geschaffen haben, während Stefan Michel aus religionsgeschichtlicher Sicht unbedingt den Namen „Schlosskirche“ beanspruchte, nicht eingedenk der Tatsache, dass schon in Torgau der erste protestantische Kirchenbau als „Schlosskapelle“ bezeichnet wurde, so dass Kurfürst Moritz sich ebenfalls für diese Benennung entschied, zumal der Bau innerhalb des Residenzschlosses entstand.
Holger Krause, zuständiger Bauleiter des SIB für das Schloss und den Wünschen der Musiker gegenüber immer aufgeschlossen, erinnerte an die Bau-, Zerstörungs- und Wiederaufbau-Geschichte des Raumes und plädierte für eine lebendige Nutzung des Raumes: eine eindeutige Aufforderung an alle Verantwortlichen, diese Möglichkeiten auch wirklich zu ergreifen.
Im Eröffnungskonzert am Donnerstag wurde der Beweis erbracht, dass in diesem Raum alles klingt, was menschliche Stimmen hervorbringen; ob Altes oder Neues, ob Gelungenes oder weniger Gelungenes. Das Chorwerk Ruhr mit Sitz in Bochum unter der Leitung von Florian Helgath, als Ensemble auch bestens ausgewiesen mit der Interpretation Neuer Musik, stellte geistliche Vokalmusik im Dialog zwischen Alt und Neu vor, thematisch dem aktuellen Geschehen mit Krieg, Zerstörung und Frieden verbunden. So bezog sich Nikolaus Brass in seinem hauptsächlich mit Konsonanten operierenden Vokalisen »Earth Diver Voices« auf zwei Motetten aus Schütz‘ »Musikalischen Exequien« und schrieb dazu (zitiert aus dem Programmheft): „Diese Musik (von Schütz) leuchtet für mich, in jeder Faser. Sie ist so klar, rein und konzentriert, ohne irgendeine Attitüde“, was die Zuhörer denn auch in jedem Werk von Schütz hören konnten. Drei Uraufführungen von Martin Wistinghausen auf Texte von Friedrich von Logau, Andreas Gryphius und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau reflektierten die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges. Folgerichtig setzte unmittelbar auf Gryphius‘ »Schluss des 1648ten Jahres« die Bitte von Schütz ein: »Verleih uns Frieden genädiglich« aus der Geistlichen Chormusik von 1648: ein eindrucksvoller dramaturgischer Moment.
Neben diesem aktuellen Bezug wurde indessen ein anderer, wesentlich weiterführender Aspekt deutlich: Der Klang dieser Schlosskapelle liefert den Beweis, weshalb Schütz hier fast alle seiner fünfhundert Kompositionen uraufgeführt hat und, mit einigen Unterbrechungen, Reisen nach Italien und Dänemark, dem Amt treu blieb und fast ausschließlich deutsche Texte, zumeist von Martin Luther, vertont hat. Für ihn war diese Schlosskapelle der ideale Raum für seine Kompositionsweise. Schütz erfüllte ein Gebot Luthers an die evangelischen Kirchenmusik, dass das geistliche Wort verständlich sein solle, und die Akustik der Schlosskapelle erfüllt wiederum die Aufgabe, diese Wort in seiner Musik hörbar zu machen. Man kann über die Bedeutung und künftigen Funktionen dieses Baues streiten, welchen Platz sie in der heutigen säkularisierten Welt hat und welche Nutzung sie künftig haben soll. Unstrittig aber ist ihre akustische Qualität, die – im Zusammenhang mit Schütz‘ genialer Kompositionsweise – tiefstes Verständnis im wahrsten Sinne des Wortes für jeden Text ermöglicht. Das war die Lehre dieses Abends. Wenn Komponisten die Balance zwischen Wort und Ton nicht herzustellen vermögen, dann kann ihnen die Akustik der Schlosskapelle auch nicht helfen.
Zum Abschlusskonzert bot das Ensemble Polyharmonique (Berlin/Limburg-Belgien) Werke von Schütz und seinen Zeitgenossen, begleitet vom Violone (Juliane Laake) und Positiv (Klaus Eichhorn). In seiner Standard-Besetzung als Doppelquartetts, das sich auch in zwei Gruppen teilte, entsprach diese Besetzung durchaus manchen Aufführungen der früheren Cantorey, denn wenn Schütz seine Sänger in vier Chöre aufteilte, dann blieben für jeden Chor je vier Sänger. Das diente unbedingt der Klarheit und dem Verständnis. Deutlich wurde am Beispiel des »Pfingsthymnus« von Michael Praetorius, dass sich Polyphonie in der Schlosskapelle offensichtlich nicht so gut für die Textverständlichkeit eignet wie der lapidare Stil von Heinrich Schütz. Im Vergleich zu Werken von Andreas Hammerschmidt, Christoph Bernhard, Johann Vierdanck, Tobias Michael und Johann Hermann Schein war zu hören, warum schon die Zeitgenossen Schütz als den Ersten unter allen deutschen Komponisten des 17. Jahrhunderts bezeichneten: Bereits hundert Jahre vor Johann Sebastian Bach, dem von der Wissenschaft das „Charakterthema“, also einmalige musikalische Formulierungen zuschrieb, hat Schütz zweifellos auch schon einprägsame Gestaltungen gefunden, die man bei keinem seiner Zeitgenossen hören kann. All dies kam bei der Interpretation durch das Ensemble Polyharmonique auf das Trefflichste zur Wirkung, mit kultiviertem Klang, mit pulsierender Dynamik innerhalb einzelner Akkorde.
Es wird noch ein langer Weg sein, bis die Schlosskapelle wieder den ihr gebührenden Platz unter den Klangräumen einnehmen kann. Aber, wie in diesen vergangenen Tagen zu hören war: die Musiker stehen bereit!