Die Kombination ist bestechend! Zwischen den Uraufführungen von Mendelssohns Schottischer und Zemlinskys Lyrischer Sinfonie liegt mit achtzig Jahren nur ein Menschenleben. Die Uraufführungsorte sind jeweils nur 100 km Luftlinie von Dresden entfernt: Leipzig im Osten und Prag im Südwesten. Musikhistorisch begrenzen die zwei Sinfonien den Grund und Boden auf dem sich die Staatskapelle mit Christian Thielemann zuhause wähnt, vierzig Jahre vor und nach dem »Parsifal« … und doch begibt man sich an diesem Abend, im 10. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle in der Semperoper Dresden, gemeinsam in unbekannter Garderobe auf unbekanntes Terrain.
Besonders ohrenfällig wird dies bei Zemlinsky. Orchester und Thielemann fremdeln mit dem Werk, aber auch miteinander. Der Chef kämpft um die ihm vorschwebende Dynamik, fordert mit wild flirrenden Fingern mehr Klangmagie und schüttelt einmal sogar energisch mit dem Kopf. Dabei gibt es durchaus atemberaubende Kantilenen, subtil ausbalancierte Piani und auch Klangeffekte aus dem großen Jenseits, das Rabindranath Tagores Texte in dieser Sinfonie anrufen. Insgesamt bleibt allerdings der Eindruck eines geliehenen Mantels, der hier und da zwar magisch glitzert, aber weder an den Schultern noch in der Hüfte passen will. Thielemanns zu Recht gerühmte wagnersche Klangklarheit gelingt nur in den leisen Passagen. Sobald die Kapelle ins forte oder fortissimo wechselt, erstickt aufbauschend wollener Tweed Zemlinskys motivisch-musikalische Falten.
Für den erkrankten Christian Gerhaher sprang Adrian Eröd ein. Der Wiener Bariton hat in Dresden zuletzt als geschundener, differenzierter Beckmesser neue Standards gesetzt. Auf stimmlich hohen Niveau entzieht er sich heuer jedoch Tagores an Liebe und Welt verzweifelnden Zeilen, dem “Nebel von schweren Weihrauch” wie auch der “Glut meines sehnsüchtigen Herzen”. Er flüchtet in einen sachlich, deklamatorischen Sprechgesang, der nicht einleuchten will.
Wie aus einem anderen Universum hingegen ruft die Sopranistin Julia Kleiter herüber. Jede Note ist Massarbeit. Jeder Ton, jede Silbe atmet mikrodynamisch differenziert. Jede ihrer Vokalfärbungen sucht und tastet nach Zemlinskys ureigener Klangmagie zwischen Fin de siècle und Moderne. Verführt folgt ihr die Kapelle ins schillernd-schwirrende Farbenspiel. Doch wenige Takte später behaaren die Dresdner geradezu störrisch auf ihrem ‘deutschen’ Ton. Dann scheinen Welten zwischen Wien und Dresden, Äonen zwischen Parsifal und Zemlinsky zu liegen. Das Ganze erinnert an die legendären Widerstände der Wiener Philharmoniker, denen Leonard Bernstein sich ausgesetzt sah, als er zum ersten Mal Gustav Mahler in Wien dirigierte.
Es ist ein Glücksfall, dass Thielemann und die Kapelle dieses Programm in den kommenden Tagen unter anderem nach Wien, Graz und Budapest mitnehmen. Es wird helfen, sich in der ungewohnten Garderobe heimischer zu fühlen, den für das spätromantische Repertoire prädestinierten sächsischen Klang mit österreich-ungarischer Luft zu beatmen. Dann könnte die Kombination aus Werk, Orchester und Dirigent zu einer Sternstunde werden und die Kapelle ein neues Kleid ihr Eigen nennen.
MDR – Übertragung: Freitag 27.05. 2022, 20:00 Uhr