Coronabedingt konnte die Musikabteilung der Sächsischen Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek, den 100. Geburtstag des Komponisten Fritz Geißler letztes Jahr nicht mit einem Konzert feiern. Das wurde nun nachgeholt.
Katrin Bicher, verantwortlich für Sammlungen des 20. und 21. Jahrhundert, damit auch für die jeweils instruktive Verbindung von lebendiger Musik und musikalischen Quellen zum Ansehen, gab einen Überblick über Leben und Werk. Sie wies darauf hin, dass Geißlers Musik wie die vieler Komponisten aus der ehemaligen DDR sofort nach 1990 von der „Hör“-Bildfläche verschwand, dass die SLUB inzwischen den gesamten kompositorischen Nachlass von Geißler übernommen hat und damit auch betreut, um wenigstens einige Werke wieder zum Klingen zu bringen. So hat das Kronenquartett mit Lenka Matejakova, Jörg Fassmann, Eva-Maria Knauer und Tobias Bäz alle drei Streichquartette nicht nur an diesem Abend aufgeführt, sondern schon Tage vorher produziert, so dass sie demnächst als Audio-Dateien abrufbar sind.
Fritz Geißler (1921-1984) entstammt einer Wurzener Maurerfamilie. Er war wohl einer der ganz wenigen zeitgenössischen Komponisten, der noch in einer Stadtpfeiferei das musikalische Handwerk erlernte und frühe Berufserfahrungen als Kaffeehausgeiger in Leipzig machte, bevor er als Neunzehnjähriger 1940 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Die Militärzeit endete in englischer Gefangenschaft auf Guernsey, wo er in einer Militärkapelle mitwirkte. Erst 1948 konnte er nach Leipzig zurückkehren. Er begann zu studieren, übernahm aber zwei Jahre später aus finanziellen Gründen eine Bratscherstelle in Gotha. Eine Handverletzung zwang ihn zur Aufgabe seiner Orchestertätigkeit. Noch einmal studierte er, bei Boris Blacher in Berlin (West). Die damals noch möglichen Reisen nach Darmstadt oder Donaueschingen erweiterten seinen Horizont – immer wieder informierte er sich bei Besuchen im Westen über die neusten Entwicklungen. Inzwischen hatte er zu einer musikalischen Sprache gefunden, die von Hindemith und Bartók beeinflusst war, sehr gut hörbar im Streichquartett Nr. 1 von 1953, das von Spielfreude und frischem musikantischen Elan bestimmt ist.
Unter dem Einfluss der Neuen Musik entstand das Zweite Streichquartett (1972), das nichts auslässt, was die polnische Schule mit Krzysztof Penderecki oder Witold Lutosławski bzw. die modernen Komponisten in Westdeutschland, Frankreich, Italien an Stilmitteln der Aleatorik, Dissonanzreichtum u.ä. einsetzten. Zugleich war Geißler von 1956 bis 1968 Vorsitzender des Komponistenverbandes des Bezirkes Leipzig und von 1972 bis 1984 Vizepräsident dieses Verbandes sowie Mitglied der Akademie der Künste der DDR. Das 2. Streichquartett klingt allerdings nicht wie ein Entree in den Verband, dem Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen den Kulturfunktionären und Traditionalisten, die die sowjetische Volkstümlichkeit einforderten, und den Avantgardisten, die trotz der Abschottung auch des Kulturbetriebs und -austauschs seit 1961 unbeirrt weiter provozierten. Dieses Werk höre ich als ein Bekenntnis zur Selbstständigkeit des Denkens und Schaffens, das sich Geißler in allen Situationen bewahrte.
Hier konnte ich an diesem Abend einige persönliche Erinnerungen einflechten. Ich hatte den Vorzug, im Studienjahr 1962/63 an der damaligen Karl-Marx-Universität in Leipzig von Geißler, der hier seit 1954 als Dozent lehrte, in Musiktheorie unterwiesen zu werden: Volksliedbearbeitungen, Tonsatz, Formenlehre. Genau erinnere ich mich seiner freundlichen Kritik an meiner Harmonisierung eines alten Liedes, die er rasch korrigierte. Zugleich profitierte ich von seiner umfassenden Bildung, die er in seiner beruflichen Laufbahn erworben hatte. Als ich Lektor im Verlag Edition Peters in Leipzig war, trafen wir uns wieder, als ich die Materialherstellung für die Uraufführungen seiner Opern »Der Schatten«, »Der verrückte Jourdain« oder »Das Chagrinleder« betreute. Auch hier war er stets ein freundlicher, schnell denkender und schnell artikulierender Gesprächspartner.
Als Professor für Komposition lehrte er an den Musikhochschulen in Leipzig und Dresden, wo u.a Wilfried Krätzschmar, Reinhard Pfundt und Friedrich Schenker zu seinen Schüler gehörten. Inzwischen hatte er sich als Sinfoniker profiliert und sah seine Kunst, ebenso wie seine Opern, durchaus im Kontext zu den gesellschaftlichen Veränderungen, von denen er meinte, sie mit einer verständlichen, gleichwohl anspruchsvollen Tonsprache begleiten zu können. Hier geriet er nun in Widerspruch zu den Avantgardisten der DDR-Musik, die jede Konsonanz als Treue-Bruch an der Neuen Musik kritisierten. Aber auch das beeindruckte Geißler nicht, er hatte seinen eigenen Kopf bis zuletzt, als er in seinem 3. Streichquartett – Metamorphosen deutscher Volkslieder, einem seiner letzten Werke von 1982, ganz bewusst alte Lieder wie »Schwäfelhelzle muäß mä ha« auf virtuose, spielerische Weise paraphrasierte.
Der SLUB sei gedankt, dass sie eine so lebendige Wiederbegegnung mit dieser Musik ermöglichte.