Dass sich Musik-in-Dresden-Autoren immer gerne mal an benachbarten Bühnen wie Prag, Wien oder Graz tummeln, um die dortige kulturelle Gemengelage aufzusaugen, ist ja hinreichend bekannt. Auch den Autor dieser Zeilen hat es für einige Zeit nach Wien verschlagen – im Mai gastierte dort sogleich Kapell-Chef Thielemann bei den Wiener Philharmonikern, und auch der gerade bei den Musikfestspielen in Dresden präsente Dirigent und Komponist Thomas Adés stand am Pult der Wiener Philharmoniker.
Wegen der Wiener Philharmoniker hätte ich auch ganz brav am Rezensentenplatz im Kulturpalast sitzen bleiben können, nach ihrem umjubelten Gastspiel bei den Musikfestspielen 2019 kehrten sie nämlich nun endlich zurück. Vor ausverkauftem Haus gastierten sie am Sonnabend bei den diesjährigen Musikfestspielen mit dem Letten Andris Nelsons am Dirigentenpult, der nach der ausgiebigen Tour durch Europas Konzertsäle auch das beliebte Sommernachtskonzert in Schönbrunn leiten wird.
Dort gibt es natürlich dann ein paar leichtere Häppchen für’s Publikum, doch auch das Gastspielprogramm bot nicht allzu schwere Kost. Sofia Gubaidulinas „Märchenpoem“ stammt aus dem Jahr 1971 und erinnert tatsächlich auch an historische Märchenfilme aus der DDR oder Tschechien, die mit solch glasig-schöner Kammermusik aufwarteten – dem Stück lag denn auch das Märchen „Die kleine Kreide“ zugrunde, eine hübsch instrumentierte Geschichte also, die in Andris Nelsons modellierenden Händen ihren Meister fand, aber tatsächlich hätte ich von der unglaublich sensiblen Komponistin lieber eines der aktuellen Werke wie „Der Zorn Gottes“ oder ihr 3. Violinkonzert gehört.
Im weiterhin fast kammermusikalischen Feinklang, nun noch mit ordentlich rhythmischem Unterbau, ging es weiter – Dmitri Schostakowitschs 9. Sinfonie Es-Dur war ja des Komponisten Antwort auf die Forderung nach einem ‚heroischen‘ Werk nach dem Sieg der Roten Armee 1945 und gerät bis auf wenige langsame Passagen zu einem Cartoon, zu einer Partitur eines bärbeißigen „Von wegen!“
Nelsons legte hier seine ganze interpretatorische Erfahrung mit Schostakowitschs Musik hinein und motivierte die Wiener Philharmoniker zu einer gleichsam schmissigen wie hochseriösen Darbietung dieser Sinfonie. Selten hat man etwa den Part der Piccoloflöte so klangschön gehört, und das Fagott-Solo von Sophie Dervaux im Largo berührte enorm. Auch Nelsons hörte da nur noch andächtig zu und ließ die Fagottistin von einer warmen Posaunendecke umrahmen.
Man kennt das ja an der Auslage im Eissalon- eigentlich reichen zwei Kugeln, aber die dritte muss dann doch noch obendrauf: Denn nach der Pause wartete noch Antonín Dvořáks 6. Sinfonie D-Dur auf das Musikfestspielpublikum – vielleicht seine lichteste und klassischste Sinfonie. Doch schleckt sich dieses Eis nicht ganz von selbst weg. Nelsons zeichnete die Charaktere der Themen sehr genau, verstieg sich dann aber im Adagio doch zu sehr ins temponachgebende Schwelgen. Dieser Spannungsabfall tat auch den folgenden beiden Sätzen nicht gut, manches verlor sich in – immer noch wunderbar ausmusizierte – Einzelteile, erst in der Stretta bekannte sich Nelsons, der im gesamten Konzert recht besonnen wirkte, zu uneingeschränktem Fahrspaß.
Denn fälligen Schlagobers auf die Wiener Eistüte gab es am Ende noch mit Johann Strauss wunderschönem Walzer „Wo die Zitronen blüh’n“, mit diesem wurden die Dresdnerinnen und Dresdner würdevoll in den Frühsommerabend entlassen.