Grelles Gelb als Horizont. Überdimensionale schwarz-weiße, quadratische Kacheln, die sich heben und senken. Darunter modulare Räume, die aus der Unterbühne herausfahren – mal poppig orange, mal blutrot. In dieser Welt des Hallenser Bühnen- und Kostümbildners Helmut Brade geht es zu wie in einem Comic Strip. Skurrile Geheimagenten in schwarzen Gummimänteln jagen über die Bühne, Wolken wie aus dem Kindermalkasten. Bei der Neuproduktion von Schostakowitschs Oper Die Nase an der Semperoper tun sich aber auch immer wieder tiefe Abgründe auf. Die Kacheln verschwinden im Bodenlosen, gefährliche Abgründe entstehen, reißen den Protagonisten förmlich den Boden unter den Füßen weg.
Um die 50 Rollen listet der Programmzettel. Sie hetzen wie Getriebene über diese Bühne, oft mit anonymen Rollenbezeichnungen wie “ein alter Mann”, “Lakai”, “ein Major” oder einfach “Sopran-Solo”. Der Personalreichtum von Schostakowitschs früher Oper ist eine Herausforderung für jedes Haus. Der Semperoper gelingt es diese Rollen vorzüglich zu besetzen. Im ausnahmslos starken Ensemble finden sich Jukka Rasilainen als Barbier, Roxana Incontrera als dessen Frau, Sabine Brohm als Podtotschina und Alice Rossi als deren Tochter.
Trotz der vielen Rollen ist dieser Abend aber eigentlich ein Einpersonenstück. Bo Skovhus ist eine Ausnahmegestalt der Opernwelt. Der dänische Bariton war zuletzt als Don Giovanni im Da-Ponte-Zyklus zu bestaunen. Auf der Bühne wandelt er mit seinen Rollen immer am Abgrund, führt sie in die physischen Extreme und lässt dabei die musikalischen Herausforderungen fast vergessen. Er ist kein Opernsänger, er ist Darsteller. Sein Kowaljow erwacht und muss feststellen, dass ihm seine Nase über Nacht abhanden gekommen ist. Dieser albern-komische Einfall Gogols wird durch Skovhus als existentielles Drama nachvollziehbar. Er leidet, er schwitzt, er ist verzweifelt. Seine darstellerische Intensität erinnert an die legendären Solo-Abende des Schauspielers Fabian Hinrichs. Wie dieser nutzt er seine ganze körperliche Verletzlichkeit und lässt uns an seinem Leib die Zerbrechlichkeit der Welt spüren.
Vom Pult aus gelingt Petr Popelka, dem ehemaligen Kapell-Kontrabassisten, der inzwischen zwischen Oslo und Budapest als Dirigent Erfolge feiert, eine Glanzleistung. Unter ihm klingt die Kapelle frisch und agil und stellt sich den technischen Herausforderungen der Partitur mit Leichtigkeit. Ein Blick in den Graben verrät: hier sind vornehmlich die Jüngeren im Einsatz. Es ist die Zukunft der Kapelle, die man hier hört. Ein beglückender Blick in die klangliche Zukunft! Nur die Chöre (Einstudierung: André Kellinghaus) vernachlässigt Popelka ein wenig.
Dem Altmeister des deutschen Regietheaters Peter Konwitschny ist mit dieser »Nase« ein Geniestreich gelungen. Zum Schreien komisch und hintergründig zugleich. Als surreale Traumwelt in bunten Farben versteht er Kowaljows Leidensgeschichte. Und dieser Traum ist zugleich eine traumwandlerisch sichere Reflektion der eigenen Regiemittel. In manchen Arbeiten der letzten Zeit wirkten Konwitschnys Ideen übermäßig plakativ. Gelegentlich kann das altbacken wirken, hier kann man allerdings eine konsequente und überzeugende Interpretation bewundern, die das Premierenpublikum zu recht feiert. Ganz ohne Buhrufe! Das mag eine neue Erfahrung für den Regisseur gewesen sein, zahnlos ist diese Inszenierung allerdings keineswegs.