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Revolution des Klangs

Foto: Matthias Creutziger

Musikjournalisten schauten sich schon etwas betreten an, als die Staatskapelle vor knapp zwei Wochen unerwartet früh bekannt gab, wen sie sich zum Nachfolger Christian Thielemanns erwählt hat. Unter Kollegen – und ja, in Dresden ist die Musikkritik erstaunlich männlich – raunte man sich Namen zu, auf die man hoffte, aber mit denen man auch nicht wirklich rechnete. Zu jung, zu weiblich, zu experimentierfreudig.

Mit Daniele Gatti haben im Klassikbetrieb aber aus einem ganz anderen Grund wenige gerechnet. Kein anderes der globalen Big 10, zu denen die Staatskapelle ohne Zweifel zählt, hätte Gatti ernsthaft in Betracht gezogen. “Ausgerechnet Gatti” titelte die Welt. Dies liegt vor allem an seinem unrühmlichen Vertragsende in Amsterdam kurz vor Beginn der Pandemie. Die Washington Post hatte zuvor ausführlich über systematische sexuelle Belästigung im Klassikbetrieb berichtet – Gatti war einer ihrer prominentesten Fälle. Die Anwälte des Maestro und des Concertgebouw einigten sich allerdings nach einigem Hin und Her auf eine Vertragsauflösung aufgrund ‘unüberbrückbarer Differenzen’ und vereinbarten Stillschweigen. Gatti wurde als Gast, auch in Dresden, weiterhin eingeladen.

Die designierte Semperoper-Intendantin Nora Schmid gab in einem Radiointerview zu verstehen, dass es nach Aufkommen der Vorwürfe auch an der Elbe eine interne Untersuchung gegeben habe. Ohne belastende Ergebnisse. 2019 sei aber auch schon eine Weile her! Darüber hinaus habe sie in Vorbereitung ihrer Intendanz unabhängig von der Kapelle mit dem Italiener bereits über eine potentielle Zusammenarbeit im Opernbereich Gespräche geführt. Sie freue sich jedenfalls, dass das Orchester sich für jemanden entschieden habe, der gleichermaßen im Graben wie auf dem Konzertpodium zu Hause sei. Die Wahl der Kapelle bedeutet jedenfalls, dass in Dresden 2024 ein ungleiches Team an den Start geht. Ob Schmid und Gatti sich ergänzen werden, ob sie gemeinsam für Kapelle und Oper einen produktiven Weg in die Zukunft finden? 

Lang geplant gastiert Gatti nun mit Gustav Mahlers 9. Sinfonie zum diesjährigen Saisonabschluss. Beim Blick in den Saal fällt auf, dass im sonntäglichen Matineekonzert mehrere hundert Plätze leer bleiben. Mit diesem Publikumsschwund kämpfen gerade viele Veranstalter, nicht nur in Dresden. Beim Blick aufs Podium hingegen fällt auf, wie männlich die Kapelle auch im 21. Jahrhundert noch ist. Und wir sprechen hier nicht von knappen Mehrheiten. Bei den Streichern bringen es die Musikerinnen knapp auf ein Drittel, beim restlichen Orchester sitzen neben 55 Musikern 9 Musikerinnen; an den Solopulten wird die Luft noch einmal deutlich dünner. Und das, obwohl Absolventinnen an deutschen Musikhochschulen gegenwärtig die Mehrheit eines jeden Jahrgangs stellen.

Im Pressegespräch ein paar Tage zuvor zeigt sich Gatti charmant und singt ein Loblied auf den Dresdner Klang. Was er vorhat, in welche Richtung und mit welchem Repertoire er diesen Klang entwickeln will, verrät er mit Verweis auf die noch junge Entscheidung und die ausstehenden Verhandlungen mit dem Ministerium nicht. Nur so viel, er plane keine Revolution. Aber mit einer Aussage und besonders einer Geste begeistert er Mitglieder des anwesenden Orchestervorstandes. Man müsse diesen Klang bewahren, ihn aber auch für die Interpretation formen. Dabei vollführt er mit beiden, auf die Zuhörer gerichteten Händen eine vorsichtige parallele Seitenbewegung nach links und rechts. Er dirigiert seine eigene Aussage mit den Händen. Die Geste erinnert an parallel schwingende Türflügel oder große Klangregler, die das Gegenüber nach Bedarf in eine bestimmte Richtung lenken, es nur leicht vom Wege abbringen sollen, mit Charme und Bedacht.

Der Zufall will, dass mit Mahler ein Komponist auf dem Programm des aktuellen Symphoniekonzerts steht, an dem man dieses Abbiegen, dieses Variieren des Dresdner Klangs formidabel studieren kann. Gerade im Vergleich mit Thielemanns Interpretation von Zemlinskys Lyrischer Sinfonie im vorangegangenen Konzert fällt auf, was das bedeutet. Unter ihrem derzeitigen Chef fremdelte die Kapelle mit den Klangwelten des Wiener fin de siècle. Akzente beulten aus und klangen nach unentschlossenen Bogenlampen. Unter Gatti hört man einen genuinen Mahlerklang, wie ich ihn der Kapelle nicht zugetraut hätte. Sinopoli, der den jungen Gatti vor über 20 Jahren persönlich nach Dresden holte, scheint durch die Ritzen der Partitur zu lächeln.

Gatti befreit die Neunte dabei von ihrer gewohnten Todesnähe. In seinen Norton Lectures beschrieb Leonard Bernstein diese letzte von Mahlers Sinfonien, deren Uraufführung der Komponist selbst nicht mehr erlebte, als eine dreifache Prophezeiung des Todes: Mahlers eigenen, nahenden Tod, den Tod der Tonalität und den Tod des Faustischen in allen Künsten hörte der Amerikaner in dieser letzten vollendeten Sinfonie des Wieners. Eine legitime und musikalisch einleuchtende Herangehensweise, die nicht zuletzt auch auf der finalen Spielanweisung des Schlusssatzes beruht: ersterbend! Gatti denkt die Neunte allerdings vom Frühwerk aus und betont bis in ihre weitläufigen Mollpassagen die Ironie, die Mahler auch immer innewohnt.

Der zweite Satz – bestehend aus Ländler, Walzer und steirischem Ländler – klingt beispielsweise überhaupt nicht nach “komponierten Ruinen”, die Dieter Schnebel aus den Tänzen einst heraushörte. Vielmehr verfremdet Gatti die Tänze in durchdachte musikalische Spielereien, die Tänzerisches mit Tiefsinnigem verbinden. Schalkhaft spielt er im dritten Satz mit dem Zitathaften, dem Spielmannszug, der immer wieder durch Mahlers Sinfonik zieht. Das Ganze ist oft beschwingt, gern grotesk-humoresk, im nächsten Moment wiederum höchste Streicherlegatoperfektion. 

Immer wieder atmet Gattis Interpretation alle Schattierungen des Lichts. Morgengrauen, liebliche Pastorale, erhabene Alpenstille. Man hört den erfahrenen Kapellmeister. Seine Interpretation erscheinen szenisch-theatral gedacht, ohne je auf konkrete oder simple Programme abzuzielen. Bei allem filigranen Zuckerwerk im Pianissimo vergisst Gatti allerdings auch nie das unterschwellig Dunkle dieser Musik. Die Schatten kommen aber nicht eindimensional als Tod oder metaphysisches Raunen daher, sie scheinen – mit erfrischender weltanschaulicher Offenheit – vielmehr das Dunkle im Sinne eines allgemein Unbekannten, oder eben Noch-Nicht-Bekannten zu meinen. So wunderbar entschlackt habe ich Mahlers Neunte nie gehört. 

Mit traumwandlerischer Musikalität zerschneidet der Italiener seine schier unendlichen Bögen mit schreienden, schneidend schönen Dissonanzen, läuft auf sie zu mit melodischer Feinsinnigkeit. Überhaupt diese unendlichen Bögen, die Gatti über Minuten, über ganze Sätze spannen kann, unter denen er im Kaleidoskop die Klangfarben bricht und wieder zusammenfügt! Schrille Dissonanzen, burleske Bogenarbeit am Rande des Geräusches, aber auch flirrende Mikrodynamik und weit vom Kitsch entfernte Süße zeugen von einer unerhörten Bandbreite und selten gehörten Weitung des Kapellenklangs. Das ist eine Revolution, die die Tradition mitdenkt.

Bisher sind Gattis potentielle Mahlerzyklen immer Fragment geblieben. Was er in Worten in Bezug auf eine Zukunftsplanung für Dresden noch schuldig bleibt, entwirft er am Pult. Wenn mich nicht alle Sinne trügen, dürfen wir uns in den nächsten Jahren auf eine komplette Einspielung der Mahler-Sinfonien mit der Staatskapelle freuen. 

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