Am 7. Juni 2022 verstarb der Dirigent Jürgen Wirrmann. Sein Name ist mit einer vielseitigen, künstlerisch produktiven Periode des „musica-viva-ensembles dresden“ verbunden. Er studierte Horn und Dirigieren an der Dresdner Musikhochschule und war von 1974 bis 1981 Chefdirigent des Staatlichen Sinfonieorchesters Riesa. Von 1981 bis 1986 leitete er die Spezialabteilung für zeitgenössische Musik des Verlages VEB Edition Peters in Dresden und von 1982 an das musica-viva-ensemble. Mit der Gründung des Dresdner Zentrums für Zeitgenössische Musik übernahm Wirrmann die Künstlerische Produktion des Zentrums und blieb damit dem Ensemble insgesamt 25 Jahre als Dirigent verbunden.
30 Jahre bestand das musica-viva-ensemble dresden, das 1977 von Ulrich Backofen zusammen mit einigen seiner Studienkollegen an der Dresdner Musikhochschule gegründet wurde. Da die Musiker inzwischen Mitglieder der beiden Dresdner Spitzenorchester waren, lag ein entscheidender Grundgedanke auf der Hand – das Gegenüber und Miteinander von alter und neuer Musik bei gleichzeitiger Vereinigung von zwei Dresdner Antipoden: Der Staatskapelle Dresden und der Dresdner Philharmonie. In diesem Ensemble gab es keine Rangunterschiede oder -streitigkeiten über die Zugehörigkeit zu einem der Orchester; hier wurde ernsthaft gemeinsam musiziert. In diesem Ensemble litt keiner an Profilneurosen, alle stellten sich selbstverständlich in den Dienst von Aufführungen von höchster künstlerischer Qualität. Da waren auch Proben bereits um 8 Uhr in der Frühe möglich, bevor der reguläre Orchesterdienst um 10 Uhr begann. Und schließlich zeichnete eine große Vielseitigkeit und Breite des Repertoires die Arbeit des Ensembles aus: von Bach über Haydn, Mozart, Schubert, Wagner, Debussy, Richard Strauss zu Schönberg, Satie, Ives, Bartok, Martinů, Britten, Hindemith, Boulez, Ligeti, Cage, Kagel, Gubaidulina, Schnittke, Dessau, Eisler, Schenker, Goldmann, Katzer, Bredemeyer, Herchet, Lischka, Dittrich, Matthus, Schleiermacher, Gundermann reichte die Palette, und es dabei sind noch längst nicht alle Komponisten genannt. Auch Peter Schreier als Solist und Hans E. Zimmer, Udo Zimmermann, Peter Gülke oder Olaf Hensold als Dirigenten arbeiteten gern mit dem Ensemble zusammen.
Es waren nicht nur ernsthafte, komplizierte Originalwerke, sondern auch intelligente, heitere Werke, die das Ensemble brillant aufführte. Darunter Richard Strauss »Till-Eulenspiegel«, bearbeitet von Franz Hasenöhrl für fünf Instrumente, welchen mir die Musiker als Ständchen zu meinem 50. Geburtstag servierten, »Wagner alla piccola«, eine literarisch-musikalische vergnügliche kurze Reise durch Wagners langen »Ring des Nibelungen«, die u.a. auch beim Rheingau-Festival erklang, oder »Die Entführung aus dem Orchester« mit Bearbeitungen großer Orchesterwerke für Kammerbesetzung.
Nachdem Ulrich Backofen 1982 die DDR verlassen hatte, wurde Jürgen Wirrmann Leiter des Ensembles. Der Verlag VEB Edition Peters übernahm die Trägerschaft, und es ergab sich eine fruchtbare Zusammenarbeit bei der Realisierung vieler Ur- und Erstaufführungen zeitgenössischer Musik hauptsächlich von Komponisten aus der DDR. Gleichzeitig erschlossen sich die Musiker ein beachtliches Repertorie der westeuropäischen Moderne. 1988 schrieb Györgi Ligeti: „Ein großes BRAVO für das musica-viva-ensemble Dresden! Ich habe mit Ihnen einer der schönsten Aufführungen meiner Aventures und Nouvelles Aventures erlebt. Dazu braucht man Métier und ENTHUSIASMUS, und Sie haben beides! Bitte, setzen Sie Ihre Mission fort! Herzlichst, Ihr Györgi Ligeti“. Bereits 1984 waren beide Werke von musica-viva erstaufgeführt worden. Ligeti hatte mit nur zwei Worten die Tugenden des Ensembles beschrieben.
Prof. Peter Krauß, Solo-Kontrabassist der Dresdner Philharmonie bis 2011, dem ich viele detaillierte Informationen verdanke, war von Anfang an ein umsichtiger Geschäftsführer, dem alle organisatorischen Aufgaben oblagen, die man als normaler Kontrabassist eines Sinfonieorchesters niemals zu erledigen hat. Zudem war er ein herausragender Solist, dessen technisches und musikalisches Können einige Komponisten zu anspruchsvollen Werken herausforderte. Dank seiner Sorgfalt ist heute im Stadtarchiv Dresden das ganze umfängliche Material (Flyer, Programmhefte der Konzerte u.a.m.) archiviert und zugänglich.
Mitglieder des Ensembles der Staatsoper Dresden sowie des Staatsschauspiels wurden in vielfältiger Weise herangezogen, unter ihnen Gabriele Auenmüller, Elisabeth Wilke, Renate Biskup, Andrea Ihle, Jürgen Hartfiel als Sänger sowie Hanns-Jörn Weber, Lars Jung oder Friedrich Wilhelm Junge als Sprecher. Damit konnte das musica-viva-ensemble sein umfangreiches Repertoire in ganz Europa vorstellen, so im Mozarteum in Salzburg, zum Warschauer Herbst, zum Amsterdam Festival, in Lille/Frankreich oder zum Schleswig-Holstein Festival.
Überblickt man die hunderte von Konzerten, so darf man zurecht erstaunt sein, was die Musiker in den Jahren bis 1989 alles auf die Beine gestellt haben, damals alles geduldet von einer eher restriktiven Kulturpolitik der DDR-Behörden. Aber die beiden Dresdner Spitzenorchester waren beliebte Devisenbringer, wenn sie im kapitalistischen Ausland rund um den Globus gastierten, so dass auch ihr kleinerer Absenker aus diesen beiden Orchestern unverdächtige Botschafter der Dresdner Musikkultur waren, zudem sie auch Musik der westeuropäischen Avantgarde anboten, die allmählich in der DDR geduldet wurde.
In den 90 Jahren erfolgten zahlreiche Mitschnitte nicht nur beim mdr, sondern im Bayrischen Rundfunk, beim WDR, NDR oder Radio Bremen. Keine namhafte Spielstätte in der DDR und in Westdeutschland, kein namhaftes Festival in beiden Staaten fehlte in den Reisezielen des Ensembles: eine Aufzählung würde viele Zeilen füllen.
1986 löste der damalige Verlagsdirektor und Nomenklaturkader des ZK der SED, Norbert Molkenbur, die Dresdner Verlagsabteilung auf, so wie er 1990 den Verlag Edition Peters in Leipzig zerschlug. Udo Zimmermann übernahm das musica-viva-ensemble in sein Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik. Damit hatte die Musikervereinigung wiederum eine musikalisch geprägte Heimstätte gefunden und konnte ihre nationale und internationale Präsenz so konsequent ausbauen, dass im vereinten Deutschland ein nahtloser Übergang in den europäischen Konzert- und Festivalbetrieb gelang.
2007 entschlossen sich die Musiker dennoch, ihre Konzerttätigkeit zu beenden. Fast alle waren nun etwa 30 Jahre dabei, und es gelang kaum noch, unter den neuen Bedingungen der Arbeit der beiden Orchester, geeigneten Nachwuchs zu erreichen, der bereit war, in vergleichbarer Weise die zusätzlichen Arbeitsbelastungen auf sich zu nehmen. Daher musste man nur ganz unsentimental die Lage akzeptieren und mit einem stolzen Blick auf der vergangenen Leistungen Adieu sagen. Da die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, kann sie auch den rasch verklingenden Tönen keine dauerhafte Erinnerung bewahren.