Sommer 2022. Touristenmassen schieben sich wieder durch die Altstadt von Dubrovnik, deren nach Kriegszerstörungen 1990 restaurierter heller Sandstein in der Augustsonne gleißt. Von hier aus fährt der bestens klimatisierte Linienbus 10 über die kurvenreiche Küstenstraße in Richtung Südosten. Eindrucksvolle Ausblicke eröffnen sich: Die Adria schimmert in verheißungsvollem Blau tief unter der Küstenstraße und den steilen Bergabstürzen. Nach einer Stunde erreicht der Bus den beschaulichen Ferienort Cavtat. Angebote für Ferienzimmer in deutscher Sprache zeigen, dass besonders Urlauber aus Deutschland hier willkommen geheißen werden. Doch ahnt kaum jemand, dass hier ein wichtiges Kapitel Dresdner Musikgeschichte begonnen hat – und noch immer in Erinnerung gehalten wird.
Nur wenige Schritte vom Busbahnhof entfernt steht im schönsten österreichischem Gelb die Villa Pattiera. Im Erdgeschoss öffnet sich das Restaurant »Dalmacija« mit Gästeterrasse zum kleinen Platz hin, der in beide Richtungen zur Uferpromenade wird.
Die Betreiberin Nina Mandić empfängt mich sehr freundlich und zeigt stolz historische Fotografien des Sängers Tino Pattiera in der kleinen Lobby und dem Treppenhaus. Am 27. Juni 1890 wird er in diesem Haus geboren. Getauft wird er in der kleinen Barockkirche schräg gegenüber. Seine Familie bleibt dem damaligen kleinen Fischerdorf am Rande des damaligen Österreich-Ungarn treu; der junge Tino dagegen lernt singen und verlässt seine Heimat, um – einigen Quellen zufolge – ab 1913 in Dresden Gesang zu studieren, wo er auch Richard Tauber kennenlernt.
Am 7. Dezember 1915 debütiert Tino Pattiera auf der Bühne der Hofoper, der heutigen Semperoper in der »Zauberflöte« und erscheint erstmals in der Dresdner Presse. Die Dresdner Staatszeitung schreibt am Tag darauf: „Die Vorstellung vermittelte uns nebenher die Bekanntschaft mit einem neuen Tenor, Hrn. Pattiera, der einen der Geharnischten sang. Das Tonvibrato verriet, dass er ‚Lampenfieber‘ hatte, aber die Stimme zeigte Qualität“.
Am 14. März 1916 werden auch die Dresdner neuesten Nachrichten auf Pattiera aufmerksam und schreiben prophetisch: „Nach längerer Zeit wieder eine Aufführung des alten ‚Troubadour‘. Unter Umständen kann sie zu Denkwürdigkeit kommen in der Geschichte unserer Hoftheater. Nicht alle Tage wird in Deutschland ein Gesangstenor der Öffentlichkeit zugeführt. Das geschieht kaum in 10 Jahren einmal. Es geschah in dieser Dresdner Aufführung des ‚Troubadour‘. Ein junger dalmatinischer Kroate, Tino Pattiera, sang den Manrico zum erstenmal, betrat damit überhaupt zum erstenmal in einer großen Partie nicht nur unsre Hofbühne, sondern die Bühne überhaupt. Der Leistung hafteten somit, darstellerisch besonders, alle Unfertigkeiten begabter Anfängerschaft an. […] Was daran ungehindert und mit einer sympathischen Unwillkürlichkeit da und dort blitzartig hervorbrach – man denke an das dreigestrichene C in der Stretta, ein wahrhafter Geyser kraftvollen Wohlklangs – blendete und nahm das vollbesetzte Haus mit Sympathie für den jungen Künstler rasch ein.“
Anlässlich einer weiteren Aufführung am 21. März 1916 schreiben die Dresdner Nachrichten: „Leider ist ja aber unsere ganze Troubadouraufführung szenisch wie musikalisch reichlich verstaubt und sehr – sagen wir ‚undresdnerisch‘, woran sich jedoch das Publikum absolut nicht stößt, wenn ein richtiger Titelheld vom hohen c wie Tino Pattiera über die Bretter schreitet. In der Tat war der junge Stimmbesitzer in bester Geberlaune; nicht weniger als dreimal brachte er den kostbaren Ton: einmal in der Arie und zweimal in der Stretta des dritten Aktes. Und da auch die as und a usw. wieder genugsam erstrahlten, herrschte eitel Wonne, die sich durch das unmögliche Spiel und ähnliche Kleinigkeiten absolut nicht stören ließ. Im Gegenteil: solch einem Tenor gereichen sogar Mängel noch zur Zierde, wie ich denn in der Pause einige Damen schwärmen hörte: ‚Nein, und wie süß sich das macht, daß er das Deutsche nicht so ganz richtig aussprechen kann!‘ Man sah es den schönen Kunstschwärmerinnen ordentlich an, wie Ernst es ihnen dabei war.“
Am 28. April 1916 tritt Pattiera erstmals in der Paraderolle des Radames in Verdis »Aida« auf. Die Dresdner Staatszeitung schreibt: „Daß seine Stimme ein Material von nicht gewöhnlichem Wert darstellt, zeigte sich dabei von neuem. aber doch auch, daß dieses vorläufig einem ungeschliffenen Demant zu vergleichen ist. Vor allem muß der junge Sänger den knödelnden Ansatz beseitigen, um der Tongebung den Weg freizumachen. In den rezitativischen Stellen war er, noch dazu bei seiner mangelhaften Aussprache, oft kaum vernehmbar. Wie weit sich dann das Organ über den lyrischen Charakter, der ihm eigen ist, entwickeln wird, bleibt abzuwarten.“ Die Dresdner Neuesten Nachrichten klingen da begeisterter und würdigen den Sänger ausführlich: „Tino Pattiera ist gestern zum zweitenmal in einer großen Partie vor die Öffentlichkeit getreten und hat aufs neue bewiesen, daß man auf ihn starke Hoffnungen setzen darf. Zwar ‚ein neuer Caruso‘, wozu ihn eine übereifrige und den jungen Künstler nur schädigende Reklame des Bühnenagentenmarktes kürzlich in großen deutschen Blättern stempelte, ist er sicher noch nicht, niemand verlangt auch die Erfüllung so großmäuliger Anpreisungen von einem blutjungen Mann, der eben seine ersten Schritte auf der Bühne macht. […] Es ist ein echtes Bühnentalent, das sich da vor uns allmählich entfaltet, und sicher gehört Pattieras Tenor zu den allerschönsten Stimmen der Gattung.“
Von nun an begleiten die Medien in Dresden und darüber hinaus die Karriere des Ausnahmesängers. Am 16. Mai 1916 debütiert „der neue Tenor der Dresdner Hofoper, Herr Tino Pattiera“ als kurzfristige Krankenvertretung im Städtischen Theater Leipzig. Am 14. Oktober 1916 tritt er erstmals als Lyonel in Flotows »Martha« auf. Am 26. Oktober nimmt er im Blasewitzer Goethegarten an einem Wohltätigkeitskonzert zugunsten der Kriegshinterbliebenen teil, reist im November 1916 zusammen mit dem Ensemble der Hofoper zu einem Gastspiel in Wien und singt am 8. Dezember 1916 im „großen Konzert zugunsten des österreichisch-ungarischen Hilfsvereins“, das unter dem Eindruck des Ablebens von Kaiser Franz Joseph II. steht.
Zu dieser Zeit wohnt Pattiera im Palasthotel Weber, Ab 1917 ist er am Bismarckplatz 12 gemeldet. In diese Zeit fällt auch sein – vermutlich aus PR-Gründen lancierter – vermeintlicher Abschied von Dresden. Die Dresdner Nachrichten empören sich am 12. November 1919, dass man den Gesangsstar einfach ziehen lasse und schreiben weiter: „Pattiera wird, ob der ‚Urlaub‘, den er heute antritt, nun ein dauernder oder vorübergehender ist, uns sehr schmerzlich fehlen. Für die romantische Oper war er als glänzendes Stimmtalent und trotz seiner natürlichen nationalen Veranlagung eine Kraft von unersetzlichem Wert. Ohne die Augen dagegen zu verschließen, daß seine künstlerische Entwicklung noch nicht voll zum Abschluß gekommen ist, haben wir diese seine künstlerische Bedeutung immer wieder gebührend betont. Wir bedauern seinen Weggang darum jetzt auch als wirklich großen Verlust für die Dresdner Oper und hoffen nur, daß er nicht endgültig sein möge.“ Der Abschied ist nur für kurze Zeit.
1919 heiratet Pattiera Gräfin Hedwig Maria von Schaffgotsch (1891-1943) und wohnt mit ihr bis 1924 im Schloß Eckberg. Die Ehe ist unglücklich und wird 1926 geschieden. Tino Pattiera beginnt eine Beziehung zu seiner berühmten Kollegin, der Sopranistin Meta Seinemeyer (1895-1929). Er zieht in die Große Zwingerstraße 3, einen Anbau des Palasthotels Weber. Hier ist er bis 1927/28 gemeldet. Verheiratet sind Pattiera und Seinemeyer aber nicht, auch wenn es manche Literatur nahelegt. Gemeinsam treten sie am 27. Januar 1929 bei der Dresdner Erstaufführung von Tschaikowskis »Pique Dame« unter Leitung von Fritz Busch im Opernhaus auf. Wenige Monate nach der Premiere wird bei ihr eine Leukämie-Erkrankung diagnostiziert. Am 19. August 1929 stirbt sie im Johannstädter Krankenhaus in den Armen des Dirigenten Frieder Weissmann, den sie wenige Stunden vor ihrem Tod heiratet.
Nach der Affäre mit Meta Seinemeyer beginnt Pattiera eine Beziehung mit der Schauspielerin Erika von Thellmann (1902-1988). Diese ist ganz in der Nähe von Pattieras Heimat aufgewachsen: im damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Ragusa (heute Dubrovnik). Sie heiratet ihren Landsmann 1929. Auch diese Ehe hält nur kurz Zeit. In den Dresdner Adressbüchern taucht Pattiera von nun an nicht mehr auf. Wahrscheinlich wohnt er weiterhin im Palasthotel, wie spätere Quellen belegen.
Nach der Machtergreifung der Nazis spielt Pattiera eine unrühmliche Rolle bei der Vertreibung von Fritz Busch. Die engste Mitarbeiterin Buschs, Gertrud Döhnert, erinnerte sich: „Die ‚Machtübernahme‘ der Nazis nahm unentwegt ihren Fortgang, die Menschen mehr oder weniger suggestiv beeinflussend. Unter diesen Umständen kamen die Unterschriften der Solomitglieder unter einem Schreiben gegen Busch zustande. Drei Sänger waren ausgewählt, die das in die Hand nehmen mußten. Sie (Vertreter des Gaukunstwarts Sachsens) gingen zuerst zu Tino Pattiera, der im damaligen Palasthotel Weber am Postplatz wohnte. Er hat sich natürlich geweigert, aber man bedeutete ihm, er könne Busch nicht retten, und wenn er unterschriebe, würden die anderen es auch tun. Und er tat es, und soll hinterher einen Kollegen telefonisch gebeten haben, es auch zu tun, damit er nicht allein auf der Liste stünde. Wohl ist ihm bei der Sache nicht gewesen, soweit kannte ich ihn. […]
Ein Wort noch zu dem damaligen Verhalten Pattieras, das eine schwere Enttäuschung für die ganze Familie Busch sein mußte. Er ging im Hause Busch als Freund aus und ein, für die Kinder war er Onkel Tino. Fritz Busch war diesem großartigen, doch oft eigenwilligen Sänger stets Freund und Berater – und nun das! Ich selbst, die das freundschaftliche Verhältnis mit der Familie Busch aus der Nähe beobachten konnte, war innerlich entsetzt, mußte es aber stillschweigend zur Kenntnis nehmen. Wir gingen uns wohl beide in der folgenden Zeit aus dem Wege, bis er eines Tages in meinem Zimmer stand […] und wörtlich sagte: ‚Weißt du, ich konnte doch damals nicht anders, ich hatte ja noch keinen Vertrag! […] Es war also die Existenzangst, die ihn zu seiner bedauerlichen Haltung getrieben hatte. Ja, Heldentenöre müssen nicht unbedingt menschliche Helden sein!“
Pattieras Ruhm verblasst, und mit dem seit 1933 engagierten Karl Böhm versteht er sich nicht, so dass er 1940 über Prag nach Wien zieht. Hier arbeitet er als Professor an der Musikakademie. Es wird berichtet, dass sich sein „schwieriges“ Wesen kaum gegenüber Schülern und Kollegen, wohl aber zur Obrigkeit äußert. Ein letztes Mal tritt Pattiera am 29. Januar 1953 in Dresden auf – im heutigen Schauspielhaus. Das Palasthotel Weber steht da noch als Ruine daneben. Der Zuckerkranke kehrt zu seiner letzten Reise in seine – mittlerweile – jugoslawische Heimat zurück. Am 24. April 1966 stirbt er in Cavtat in den Armen seines jüngeren Bruders Frano. Auf dem Friedhofshügel gegenüber dem Jugendstil-Mausoleum der Industriellenfamilie Račić liegt Tino Pattiera begraben. Von hier aus öffnet sich der Blick auf die dalmatinische Steilküste, die roten Dächer von Cavtat, die grünen Pinien und die unwirklich blaue Adria.
Dass Pattieras Erbe in Cavtat hochgehalten wird, ist auch Nina Mandić, die übrigens fließend Deutsch spricht, und ihrer Familie zu verdanken. „Meine Schwiegereltern haben Tino Pattieras Bruder Franjo und dessen Frau bis zu ihrem Tode 1991 gepflegt. Sie hatten keine Nachkommen, und wir fühlten uns der Familie eng verbunden. Tino Pattieras Geburtshaus war nach 1945 vom Militär der Volksrepublik Jugoslawien beschlagnahmt worden. 1997 konnte es meine Familie kaufen und später zum Hotel umbauen. Mit dem Namen wollen wir an diesen wichtigen Sohn Cavtats erinnern“.
In Dubrovnik veranstaltet das dortige Orchester in unregelmäßigen Abständen das »International Opera Arias Festival ‘Tino Pattiera’«. Regelmäßig erinnert das Epidaurus-Festival in Cavtat selbst an Tino Pattiera. In diesem Jahr steht am 1. September ein Konzert mit Studentinnen der Musikakademie Split unter dem Motto »Junge Talente erinnern an Tino Pattiera«. Mehr zu den Orten Tino Pattieras in Dresden kann man in dem Buch »Dresden – 500 Orte der Musik« erfahren. Eine komplette Biografie Pattieras, die die zum Teil sehr widersprüchlichen Angaben, zu Leben und Wohnorten zusammenführt, ordnet, bewertet und korrigiert, steht noch aus.