Angus Lee, ‘chasing waterfalls’ ist ihre erste Oper. Sie konzertieren als Flötist, dirigieren und komponieren? Wie beeinflussen sich diese drei Sparten?
Bei der Oper stehen für mich die Gesangsparts im Zentrum aller ästhetischen Überlegungen und von ihnen ausgehend denke ich Oper. Nun bin ich kein Sänger, es hilft aber sicherlich, dass ich auch beim Flötenspiel immer über das Atmen und das Luftholen nachdenken muss. Ich habe also darauf geachtet, wann und wie die Solisten atmen können und müssen. Genauer gesagt, was für einen Atem sie für eine bestimmte Passage brauchen. Glücklicherweise hatte ich bereits für Sänger komponiert und konnte blutige Anfängerfehler vermeiden. Bei diesen ersten Gehversuchen hatte ich noch viel über die Möglichkeiten und die physischen Grenzen des Stimmapparates lernen müssen. Zum Teil habe ich mich damals um ganze Oktaven geirrt. Für Chasing Waterfalls wollte ich mich außerdem nah am natürlichen Sprachklang des Deutschen orientieren. Zum Glück ist mein Deutsch auch recht passabel, und so sind mir natürlich klingende Gesangsrollen gelungen. Es ist allerdings nicht meine Muttersprache, und so gibt es auch einige Passagen, die etwas fremd klingen. Das finde ich aber gar nicht weiter schlimm. Im Probenprozess hat sich gezeigt, dass ich die menschliche Stimme inzwischen viel besser verstehe.
Sie haben in Hongkong und London studiert, leben seit geraumer Zeit wieder in Hongkong und haben dort Ihr eigenes Ensemble und ein Festival gegründet. Wie empfinden Sie die Neue-Musik-Szene in Hongkong?
Neue Musik kämpft natürlich überall um Aufmerksamkeit und Ressourcen. Verglichen mit Großbritannien oder den USA geht es uns aber relativ gut. Es gibt öffentliche Unterstützung. Ästhetisch gibt es zwei Lager. Die etablierte Composers Guild und die Szene außerhalb der Guild. Ich sitze quasi auf der Mauer dazwischen. Ich bin in der Guild ausgebildet, gehöre aber zur jüngeren Generation, die sich eher international orientiert und nach neuen Wegen sucht.
Sie sind in der westlichen Musiktradition zu Hause. In Hongkong gab es lange Bestrebungen, östliche und westliche Musiktraditionen zu verbinden. Wie stehen Sie dazu?
Es ist schwer! Da treffen zwei starke kulturelle und auch musikalische Identitäten aufeinander. Nur wenige schaffen es, mit beiden Traditionen so vertraut zu sein, dass sie beiden gerecht werden können. Nur wenn man beides kennt und in beiden Traditionen ausgebildet ist, kann man sie harmonisch zusammenfügen oder sie sich produktiv, mit ästhetischem Gewinn aneinander reiben lassen.
»Chasing Waterfalls« ist eine musikalische Zusammenarbeit unter anderem mit dem Berliner Klangkollektiv kling.klang.klong. Wie hat sich diese Zusammenarbeit gestaltet?
Ursprünglich war sogar noch eine Berliner Komponistin Teil des Projekts. Sie musste sich aber wegen anderer Aufträge von dem Projekt trennen. Wir hatten wöchentliche Meetings, in denen wir uns über den jeweiligen Stand der Arbeiten informiert haben. Wir waren von Anfang an auf einer Wellenlänge, sind aber abgesehen von den regelmäßigen Treffen unabhängig voneinander vorgegangen. Das heißt, wir haben uns ganz am Anfang die Arbeit aufgeteilt und anhand des Librettos, nach dramaturgischen Gesichtspunkten, entschieden, welche Teile eher elektronisch und welche Teile der Oper eher mit einem traditionellen Apparat arbeiten sollen.
Gestaltet sich so eine Zusammenarbeit immer reibungslos?
Bei so vielen Beteiligten ist es wichtig, nicht mit fixen Ideen an die Sache heranzugehen. Unsere Treffen und künstlerischen Absprachen haben den Kompositionsprozess kreativ bereichert. Das Schreiben einer Oper von einer Stunde Länge ist ein physisch anstrengender Prozess. Und ich meine hier wirklich körperlich anstrengend. Jede Note, jede Zeile muss einzeln geschrieben werden und so gibt es Partiturseiten, an denen ich vier oder fünf Stunden gesessen habe, nachdem die generelle musikalische Idee bereits gefunden war. Ich habe mehr als fünf Monate wie ein Eremit gelebt. Aufstehen, frühstücken, komponieren, Mittagessen, Abendessen und wieder ins Bett. Und das Ganze Tag um Tag.
Könnten Sie uns noch etwas mehr über die Musik der Oper erzählen?
Wir mischen traditionell erzeugte Klänge mit elektronischer Musik. Kling.Klang.Klong steuert die elektronischen Klänge bei und diese reiben sich mit meiner Musik. Ein kurzer Teil der Oper wird live von einer künstlichen Intelligenz komponiert. Wir haben sehr ausführlich über die ästhetischen Parameter dieser KI-Stimme diskutiert und lehnen uns da an ein etwas obskures musikalisches Internetgenre an, nämlich an Vaporwave. Vaporwave verarbeitet Musik der 80er und 90er Jahre und ich bin davon nachhaltig fasziniert. Es ist zugleich Kapitalismuskritik und eine Aneignung hyper-kapitalistischer Populärkultur. Die zentrale Idee der Oper wiederum ist ein style clash zwischen ganz unterschiedlichen musikalischen Stilen bis hin zum Schock tonaler Musik.
Es geht in der Oper um KI und soziale Medien. Unterscheidet sich der Blick aus Hongkong von einer Berliner oder deutschen Sicht auf dieses Themenfeld?
Es ist uns allen in den letzten Jahren immer bewusster geworden, was in den Maschinenräumen aller sozialen Medien vor sich geht. Es gibt da viel Missbrauch, und automatisierte Algorithmen beeinflussen unser Verhalten. Ich denke viel darüber nach, inwieweit uns soziale Medien verändern. Während ich die Oper geschrieben habe, immerhin eine gute Stunde Musik, musste ich viel über Zeit und Zeitlichkeit reflektieren. Eine Stunde ist immer noch kurz, verglichen mit Wagner, aber wahnsinnig lang in einer Kultur, die von Tiktok oder Youtube Shorts geprägt ist. Wir werden so gewöhnt an inhaltsfreie Kleinsthappen, die nur der Unterhaltung dienen, dass klassische Musik allein durch ihre Länge zu einer Herausforderung wird, auf die wir uns einlassen wollen müssen.
Vielen Dank für das Gespräch!
»chasing waterfalls«. Uraufführung (70 min.) am 3. September 2022, 20 Uhr. Karten (65-106 EUR) hier. Weitere Termine: 8., 11. September.