Freilich kann man über den Sinn von Orchestergastspielen trefflich streiten. In letzter Zeit häufen sich die Diskussionen vor dem Hintergrund der globalen Klimakrise – wobei auffällt, dass die kritischen Stimmen meist nicht von klassikaffinen Sprechern stammen. Madonna und BTS seien aufgrund ihrer einzigartigen Aura als Stadiontouren okay und müssten vielleicht nur CO2-Zertifikate kaufen; ein Gastspiel der Berliner Philharmoniker oder der Sächsischen Staatskapelle in Tokyo hingegen sei verzichtbar. Jedes Sinfonieorchester könne schließlich Beethoven oder Mozart spielen!
Dass internationale Konzertreisen namhafter Orchester jedoch einen unglaublichen Gewinn darstellen, konnte man im Rahmen des September-Festivals der Dresdner Musikfestspiele im Kulturpalast erleben. Überlappend mit dem Saisonauftakt der beiden lokalen Klangkörper (beide mit Bruckner) hatte der Intendant Jan Vogler drei der wichtigsten nordamerikanischen Institutionen aus dem Bereich der Klassik samt ihrer Chefdirigenten in den Kulturpalast geladen.
Den Auftakt machte das Pittsburgh Symphony Orchestra. Der Österreicher Manfred Honeck, der seit 2009 an der Spitze des Orchesters steht, ist auch in Dresden ein immer wieder gern gesehener Gast. Mit seinen amerikanischen Musikern und Musikerinnen eröffnete er den Abend mit Schulhoffs »Fünf Stücken für Streichquartett« in einer eigenen Bearbeitung für großes Sinfonieorchester. Die nahezu französische Delikatesse und jazzig-ironischen Die 20er Jahre klingen da an; ob der große Apparat für das Kammermusikwerk jedoch wirklich ein Gewinn ist, bleibt offen.
Als Solistin brachte Hélène Grimaud ihre ganz eigene Klangvorstellung französischer Glasklarheit aufs Podium. In Ravels Klavierkonzert in G-Dur trafen dabei zwei Welten aufeinander: die eher nüchterne, doch überaus klangschöne Auffassung eines impressionistisch-ätherischen Soloparts und eine überstürmende, amerikanisch-jazzige Lesart des Orchesterparts. Besonders im ersten Satz ging Grimaud dabei oft in diesem Atlantik-breiten Unterschied der Klangvorstellungen sang- und klanglos unter. Nach der Pause folgt der sicherlich erhellendste Moment des Abends: Peter Tschaikowskys Fünfte Sinfonie in e-Moll gewann neue, unbekannte Klänge. Manche vermissten vielleicht die russische Seele oder die sibirischen Birkenwälder, aber die originär zupackende, amerikanische Herangehensweise machte aus dem Repertoirestück ein erfrischend neues Hörerlebnis. Honeck spielte gezielt mit dem amerikanischen Klang, ließ ihn für ausgewählte Passagen leuchten und modulierte gekonnt zwischen knatterndem Blech und pastoralem Holz- und Streicherklang.
Am nächsten Abend traten die Kollegen des Philadelphia Orchestra unter der Leitung ihres kanadischen Chefs Yannick Nézet-Séguin also in große Fußstapfen. Der amerikanische Zungenschlag, der mir am Abend zuvor noch so gut gefiel, geriet bei Antonín Dvořáks siebter Sinfonie schlicht zu extrem. Alles war viel zu sehr auf Effekt getrimmt, die Unsauberkeiten nahmen überhand und auf den Ohren lag eine Überdosis klanglicher Kraftmeierei. Ganz anders das Glanzlicht des Abends. Vor der Pause entlockte Lisa Batiashvili ihrer Geige betörende, impressionistische Klangwelten, die irgendwo über dem Atlantik schwebten. Mit zwei Konzertstücken plus Zugabe bekam das Publikum von ihr reichlich zu hören und konnte den kultivierten Klangfarbenreichtum der in München lebenden Georgierin in ganzer Breite bewundern. Atemberaubend ihre Interpretation von Ernest Chaussons »Poème« für Violine und Orchester!
Nach einem Tag Pause – auch Ohren müssen rasten – stieg schließlich Franz Welser-Möst mit seinem Cleveland Orchestra in den Ring. Kühn taten sie dies auch noch mit einem reinen Richard-Strauss-Programm, einem Komponisten also, auf den sich mancher Dresdner Heimrecht einbildet. Aber erst Strauss’ legendäre Amerika-Tournee machte den Komponisten 1904 endgültig zu einer internationalen Größe. Seine »Sinfonia domestica« brachte er nach 15 Proben (!) und viel „Ärger mit der Anarchistenbande der New Yorker Musikanten“ (so Strauss) am Hudson zur Uraufführung. Der Erfolg wurde zweimal im New Yorker Kaufhaus Wanamaker vor einem Publikum von jeweils 6000 Zuhörern wiederholt. In Dresden standen statt der häuslichen Sinfonie die Tondichtungen »Macbeth« und »Till Eulenspiegels lustige Streiche« sowie die Rosenkavalier-Suite auf den Pulten der Amerikaner. Und auch hier gelangte man zu ganz neuen Höreindrücken. Ein bisschen Gershwin steckt wohl auch in Strauss!
Seien wir ehrlich, keines der drei Gastspiele geriet zur absoluten Sternstunde. Und doch war jedes eine Bereicherung der Hörgewohnheiten. Daneben bereitete es Vergnügen, die akustischen Qualitäten des Kulturpalastes mit drei verschiedenen Gastorchestern noch einmal neu zu entdecken. Besonders der tief in den Celli und Bässen wurzelnde Klang der Pittsburgher kam hier gut zur Geltung. Vor den drei Konzerten bleibt aber vor allem zurück: Auch so können Strauss, Ravel, Tschaikowsky und Dvořák klingen. Ein bisschen nach Highway, nach Stahlstadt, nach American Dream. Das Dresdner Publikum dankte für diese direktere Sicht auf den europäischen Kanon an allen drei Abenden mit geradezu stürmischer Begeisterung.