Martin Lehmann hat am 1. September 2022 die Nachfolge Roderich Kreiles im Amt des Kreuzkantors angetreten. Björn Kühnicke und Martin Morgenstern haben sich kürzlich mit ihm zum Gespräch in der Kreuzschule getroffen.
Martin Lehmann, gern würden wir zuerst einmal mit Ihnen hinter die Kulissen des Findungsprozesses schauen. Haben Sie von der Ausschreibung gelesen oder wurden Sie gar eingeladen, sich als neuer Kreuzkantor zu bewerben?
Zuerst wurde ich inoffiziell von Dresdnern angesprochen: ob es mich reizen würde, wenn die Stelle ausgeschrieben würde? Ich habe damals gesagt, dass ich das natürlich verfolge, aber dass es sicherlich ein offizielles Signal bräuchte, damit ich in das Verfahren einsteige. Und dieses offizielle Signal erfolgte! Die Stadt Dresden fragte mich an. Dann gab es drei Phasen: ein schriftlicher Part, dann ein Vorstellungsgespräch, das mit einigen der 37 eingeladenen Kandidaten geführt wurde. Das war vier, fünf Monate vor der letzten, dritten Phase. Dann kam eine Vorstellungsdirigatswoche. Dazu wurden vier Kandidaten eingeladen. Ich hatte mein Verfahren Ende Mai 2021. Das habe ich als sehr angenehm und lebhaft in Erinnerung: vierzig Jungs haben unter Corona-Bedingungen verteilt im Raum gesungen. Das war eine große Herausforderung für mich, und für die Jungen auch. Es hat mir aber richtig Spaß gemacht, und die Gespräche waren so, dass ich dachte: das könnte meine neue Wirkungsstätte werden. Es galt aber die anderen Kandidaten abzuwarten. Es tagte dann eine kleine Fachjury und die große Findungskommission. Ende Juni 2021 rief mich die Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch an. Dann ging es Schlag auf Schlag. Weil der Erwartungsdruck hier in Dresden groß war, folgte bald eine Pressemitteilung. In den Vertragsverhandlungen mit der Stadt konnte ich dann die Sanierung des Altbaus des Alumnates, eine Stellenmehrung und eine Rückführung des Sachkostenbudgets auf Vor-Coronaniveau erreichen. Am 16. Dezember beschloss der Stadtrat meine Personalie und am 6. Januar 2022 verkündete der Oberbürgermeister final die Ernennung. Die Vertragsunterzeichnung fand im Plenarsaal statt.
Meine vielleicht gemeinste Frage: hat es sich die Stadt Dresden mit Ihrer Ernennung nicht etwas zu einfach gemacht? Ein Chorleiter, der in Dresden aufgewachsen ist, bei dem Kruzianer Hans-Christoph Rademann studiert hat, Vater und Brüder waren Kruzianer… das sind sozusagen reinste Kreuzchor-Gene. Ist die Kommission, die den Thomaskantor ausgewählt hat, ergebnisoffener vorgegangen?
So, wie Sie das schildern, klingt das in der Tat nach Traditionsklüngel. Ich sehe die Wahl meiner Person als Kreuzkantor aber in erster Linie in der Expertise, die ich beim Windsbacher Knabenchor erlangt habe, begründet. Dort habe ich den Nachweis erbracht, dass ich mit einem Internatsknabenchor in ähnlichen Strukturen wie in Dresden auf allerhöchstem Niveau arbeiten kann. Der Kreuzchor hat viele Traditionen, aber agiert im 21. Jahrhundert. Den Chor habe ich kurz nach der Wende verlassen; er war damals mitten im Umbruch. Die Arbeitsweise hat sich seitdem stark verändert. Wir reagieren auf rückläufiges Singen im gesellschaftlichen Kontext und auf eine Veränderung religiöser Bindung in den Familien. Daher müssen wir auch potentiellen Nachwuchs mittels neuer Konzepte aktiver ansprechen. Auch darin spiegelt sich letztlich, was von einem heutigen Kreuzkantor an Befähigungen erwartet wird. Und natürlich: Die Stadt hat vor allem anderen jemanden gesucht, der sein musikalisches Handwerk versteht.
Das bringt uns auf das vielleicht wichtigste Thema. Auch das Verständnis von einer historisch informierten Musizierpraxis hat sich seit Roderich Kreiles Ernennung weiterentwickelt. Sie übernehmen einen Chor, der beispielsweise die großen Bachschen Oratorien und Passionen immer noch mit weit über hundert Knaben und Männern interpretiert, begleitet von einem großen Sinfonieorchester auf modernen Instrumenten. Werden Sie hier auf Änderungen dringen?
Ich denke, dass Corona uns hier ein guter Lehrmeister war. Inzwischen ist dem Publikum vertraut, dass der Kreuzchor in unterschiedlichen Besetzungsstärken und Arrangements auftreten kann. Es gibt nicht mehr standardmäßig „den“ Chor, der mit 120 Sängern auf der Bühne steht. Bei Auslandstourneen, etwa der Japantournee, traten zuletzt z.B. 35 Sänger auf. Und dann kommt die historische Aufführungspraxis dazu: das ist sozusagen Spiel- und Standbein der Chorarbeit. Ich wünsche mir, dass wir uns im Schütz-Erbe des Chores verstärkt engagieren. Gerne auch gemeinsam mit Musikern, die auf für die Schütz-Zeit authentischem Instrumentarium musizieren. Dabei kann die Besetzung, gerade in der Schlosskapelle als künftig neu erschlossener Aufführungsstätte, auch deutlich kleiner ausfallen. Das Brahms-Requiem und, ja, auch das Weihnachtsoratorium und die Matthäuspassion werden hingegen auch in Zukunft in der bisherigen Stärke musiziert. Da könnte man uns sicher fragen: werden wir Bach damit gerecht? Ich freue mich auf die Erfüllung des Vertrags mit der Philharmonie, haben moderne Orchester doch schon längst den Beweis erbracht, dass sie auch historisch informiert musizieren können.
Wir werden also hier weiterhin den „Dresdner Bachklang“ erleben, einen weichen, schwingenden Klang mit großem Chor?
Ja, diese große Chorbesetzung erwarten die Jungs und auch das Dresdner Publikum. Die Philharmonie wird mit sechs, sieben ersten Geigen spielen, wir haben also einen sehr opulenten Orchesterklang zur Verfügung. Bei 3000 Zuhörern braucht die Kreuzkirche ja auch eine gewisse Klangmasse.
Ihre Konzerte mit den Bachschen Werken bei den Windsbachern wurden vom Freiburger Barockorchester begleitet. Da haben Sie etwa das Weihnachtsoratorium auch mit einer kleinen Chorbesetzung musiziert. Ihre Perspektive auf diese Werke ist also durchaus historisch informiert. Tut Ihnen da dieser „Dresdner Bach“ nicht weh?
In Windsbach wurde zum Beispiel eine „historische“ h-Moll-Messe gemacht, die ich zu den Sternstunden meiner bisherigen musikalischen Laufbahn zähle. Die Klangbalance, das Mischverhältnis von Orchesterklang und Chorstimmen, wenn sich z.B. die Naturtrompeten an den weichen Klang der Knabenstimmen anschmiegen, ebenso wie die Höhe, in der Tenor und Bass bei Bach geführt sind, sprechen dafür, dass Bach die Musik mit alten Instrumenten und historischer Stimmung bei 415 HZ gefühlt hat. So werden wir in den nächsten Jahren bei ausgewählten Projekten auch mit historischen Klangkörpern zusammenarbeiten, hoffentlich auch mit den Freiburgern.
Die Herzkammern des musikalischen Repertoires des Kreuzchors werden weiterhin Schütz und Bach sein?
Klar. Wir fragen uns aber auch, was die kompositorische Tätigkeit der Kreuzkantoren angeht, was geht da? Ich bin etwa auf Oskar Wermann [Kreuzkantor von 1876 bis 1906, d.R.] gestoßen, natürlich auch auf viele Werke von Gottfried August Homilius [1755-1785], die bislang selten aufgeführt wurden. Es wäre schön, wenn der Kreuzchor hier in seinem Erbe noch ein Stück mehr verankert wäre. Klar ist, dass der Dresdner Kreuzchor klanglich seine Grenzen hat im Vergleich etwa zum Rundfunkchor Leipzig. Das Brahms-Requiem z.B. machen wir mit Extrachor, und aus gutem Grund. Stilistisch ist die Grenze, was mit einem Knabenchor natürlicherweise erreichbar ist, bei der frühen Romantik zu setzen. Den großen zeitgenössischen und spätromantischen Werken, können wir nur bedingt gerecht werden. Da suchen wir uns Partner. Oder wir musizieren einfach die Mendelssohn-Oratorien, singen Händel, logischerweise Bach, Mozart, Haydn. Da sind wir im Bereich, den die Kinder stimmlich und mental gut erfassen können.
In den frühen Neunzigerjahren klang der Kreuzchor noch wesentlich anders als heute. Was wird Ihr Klangideal sein?
Ich denke, dass sich durch die veränderte Aufführungspraxis der Alten Musik auch der Knabenchorklang verändert hat. Früher war er eher romantisch breit, sehr linear, sehr gleichmäßig betont, dynamisch in einer Sparte, vielleicht mit Vibrato geführt. Momentan haben wir dagegen einen kristallinen, intonationsreinen, sehr klar durchhörbaren Chorklang im Kopf. Dem Wortsinn verpflichtet, in einer dynamischen Bandbreite vom Pianissimo bis zum gesunden Forte, gestaltend nach dem Wort. Gerade bei Schütz, der uns da Lehrmeister ist. Ich glaube, dass ich mich dort höre. Mein Klangideal ist eher vom skandinavischen Chorklang abgeleitet: fast vibratolos, ein schönes Fundament der Männerstimmen, darüber ein gut geführter Knabenalt, die Knabensoprane obertonreich. Ich übernehme von Roderich Kreile einen sehr gut aufgestellten Chor. Es ist schön, wie offen die Jungs sind, besteingestellt für den Übergang. Aber: jeder Chor ist momentan ein Chor „nach Corona“. Unser Gesamtrepertoire ist reduziert und die Werke unseres Oratorienkanons sind nicht mehr selbstverständlich in allen Jahrgängen verankert. Daraus wieder eine Einheit zu machen und die Repertoiredichte zu erhöhen, das wird Aufgabe der nächsten Monate und Jahre sein. Roderich Kreile hat den Chor in der Kürze der Zeit schon wieder ins Klingen gebracht, da kann ich ansetzen. Natürlich mache ich auch manche Sachen anders als meine Vorgänger. Mein Bild ist da eher eine Stradivari-Geige, die in den Händen verschiedener hervorragender Musiker anders klingt.
Verstehe ich das übrigens richtig, dass Solisten nach wie vor nicht von Ihnen selbst, sondern von der Kreuzkirche verpflichtet werden?
Sie haben recht, das ist weiterhin vertraglich so festgelegt.
Ist diese Konstruktion sinnvoll?
Wenn die Wünsche des Kreuzkantors umgesetzt werden, ist es ja egal, wer die Sänger bucht. Der Veranstalter ist die Kreuzkirche. Was ich schade fände, wenn das Publikum sagen würde: warum hat der Kantor sich eigentlich für den und den entschieden? Kennt der keine anderen Sänger? Ich habe der Kirche sehr langfristig meine Wünsche mitgeteilt. Zukünftig werden wir sehen, ob die Kirche meinen Wünschen und Intentionen folgt.
Ein großer Streitpunkt ist seit einigen Jahren das Stadionkonzert. Wird der Chor das unter Ihrer Leitung fortsetzen?
Wir bewegen uns in einer immer säkularer ausgerichteten Gesellschaft und werden daran gemessen, dass jeder Dresdner sagt: Mensch, es ist toll, dass es diesen Chor gibt – und wir sind stolz auf ihn. Vor diesem Hintergrund ist es schön, dass das Adventskonzert im Stadion tatsächlich eine Tradition in Dresden geworden ist. Wir sind deshalb in Gesprächen mit dem Veranstalter, wie der Dresdner Kreuzchor seine Handschrift und sein ureigenes Repertoire zeigen kann, aber im Cross-Over offen ist für Neues. Das ist ein Thema, das noch nicht abschließend ausgelotet ist. Insgesamt würde ich sagen: unsere Arbeit schließt sämtliche vorstellbare Formate ein, wenn unsere Handschrift dabei erkennbar bleibt. Wir dürfen uns nicht verbiegen.
Wenn wir abschließend auf die nächsten drei, vier, fünf Jahre schauen: was sind Ihre Wünsche, wo wollen Sie Brände gelöscht, wo wollen Sie neu gepflanzt haben?
Ich würde mich freuen, wenn die Sanierung des alten Alumnatsteils bald abgeschlossen wäre. Es wäre toll, wenn Stadt, Kirche, Schule, Chor und Elternschaft geeint miteinander sind und in einem Leitbild des Kreuzchores agieren. Musikalisch möchte ich ganz deutlich zeigen, dass wir mit der Philharmonie und der Staatskapelle als unseren Partnern hervorragend zusammenarbeiten. Klanglich wünsche ich mir, dass der Kreuzchor ein Stück weit meine Handschrift erkennbar macht und sich auch klanglich weiter meinen Vorstellungen anpasst. Vor diesen Aufgaben spüre ich Demut, Lampenfieber, sogar eine Spur Nervosität, aber auch jede Menge Energie und Zuversicht, dass dieses Verhältnis zwischen den Jungs und mir energetisch gut ist, und dass wir viele Dinge positiv beeinflussen können. Bei uns im Chorsaal muss es zusammenpassen! Dann kann außen Vieles passieren.
Wir bedanken uns für das Gespräch und freuen uns schon sehr auf die nächsten Aufführungstermine.