Am 6. November 1672 starb Heinrich Schütz in Dresden. An dieses Datum wurde seit Oktober 2021 in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit etwa zweihundert Veranstaltungen der Mitteldeutschen Barockmusik e.V. erinnert, neben vielen weiteren Initiativen, Konzerten, Projekten, die in diesem Zusammenhang von anderen Partnern durchgeführt wurden. Bedarf es eines weiteren Beweises für eine lebendige mitteldeutsche Kulturlandschaft – vergleichbar dem Bachjahr 2000, als in Sachsen an jedem Sonn- und Feiertag in irgendeiner sächsischen Kirche eine der Kantaten von Johann Sebastian Bach erklang? Ist Heinrich Schütz wirklich ein „Nischenthema“, wie in Kulturredaktionen sächsischer Tageszeitungen argumentiert wird?
Christina Siegfried, Geschäftsführerin der Mitteldeutschen Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V. und zugleich Intendantin des Heinrich Schütz Musikfestes 2022, hat mit ihrem kleinen Mitarbeiterstab und vielen Kooperationspartnern ein mehrteiliges Programm »weil ich lebe« vorbereitet, das den Sagittarius nicht nur als den bedeutendsten deutschen Komponisten des 17. Jahrhunderts in vielen Facetten ausweist, sondern auch zeigt, wie seine Musik vielfältige Anregungen für die Gegenwart bereithält. Unter den Kooperationspartnern befanden sich nicht nur bekannte Ensembles der Alten Musik, sondern auch die Dresdner Musikhochschule, das Heinrich-Schütz-Konservatorium, die SLUB, die Theater in Altenburg/Gera und Kassel, die Schütz-Gedenkstätten in Weißenfels, Bad Köstritz, Kassel, dazu Kirchen wie in Dresden die Kreuzkirche, die Frauenkirche sowie weitere Kirchen und Veranstaltungsräume in Zeitz, Torgau, Gera, Magdeburg… Ergänzend dazu gab es weitere Veranstaltungen, die nicht ausdrücklich zum Programm von SCHÜTZ22 gehörten, aber dem Werk von Schütz auf besondere Weise verpflichtet waren wie das hier folgende erste Konzert oder das »Schütz Universum« vom 2. November. Darüber hinaus ergaben sich wohl nicht zufällig Konstanten wie die Begegnung mit zwei Uraufführungen von Bernd Franke, eine am 24. September und zum anderen am 5. November im Konzert des Sächsischen Vocalensembles. Sie bilden gleichsam eine Klammer zeitgenössischer Auseinandersetzung mit Schütz.
Ensemble vocal modern: »In memoriam Heinrich Schütz«
24. September, Himmelfahrtskirche Dresden-Leuben
Als Ouvertüre außerhalb des Heinrich-Schütz-Festes bot das Ensemble vocal modern unter der Leitung von Christfried Brödel ein Konzert zeitgenössischer Chorkompositionen, die ausschließlich für diesen Anlass entstanden sind – als eine kulturelle Aneignung des Schützschen Werkes, wie es Komponisten im Jahr 2022 hören und lesen. Der Sächsische Musikbund e.V. war Projektträger der Veranstaltungen in Leipzig, Dresden und Magdeburg. Im Jubiläumsjahr liegt es auf der Hand, dass die einmaligen Chorkompositionen des langjährigen Dresdner Hofkapellmeisters nicht nur verstärkt erklingen, sondern dass einige Komponisten sich auf diese Kunst einlassen und sie befragen, was sie uns heute zu sagen hat. Deshalb war dieses Programm ganz im Sinne des Jubilars, der zu seinen Lebzeiten alle Anregungen aufgeschlossen aufgenommen hat. Ausgangswerke waren sowohl frühe, noch in der Lehrzeit in Venedig 1611 entstandene Madrigale als auch Motetten aus der »Geistlichen Chormusik« von 1648. Die Annäherung der zeitgenössischen Komponisten ließ hören, dass der Schützsche Chorklang mit allen seinen Dissonanzen und Auflösungen im harmonischen System durchaus heute noch Anwendung findet, wie in den beiden klangvollen Stücken aus Thomas Buchholz‘ »Geistlicher Chormusik 2022«, »Der Fährmann« und »Choral I«: ein spannungsvolles Spiel mit Dissonanzen.
Eine direkte Auseinandersetzung mit der Motette »Die mit Tränen säen« beschrieb die litauische Komponisten Diana Cemerytè, die sich im Februar mit dem Text und der Komposition befasste, als der Krieg in der Ukraine ausbrach. Dieses Ereignis nahm ihr die Energie, welche sich Schütz trotz des Dreißigjährigen Krieges bewahrt hatte, und sie brach ihr Werk ab und konnte es nur noch mit gestaltlosen Textfragmenten beenden. Aufführungspraktisch korrekt ließ Christfried Brödel drei der fünfstimmigen Madrigale von Schütz nur von fünf Solisten singen. Hier wurde das musikalische Gespür des Dirigenten für alle Feinheiten der damaligen Madrigalkunst hörbar. Das dritte Madrigal »Selve beate« (‚Glückliche Haine‘) forderte Bernd Franke in dem umfangreichen »Rubicone« auf einen Text von Leone Ebreo, »Dialoghi d’amore« aus dem 15. Jahrhundert zu einer kritischen Sicht auf Tier- und Menschenwelt heraus: Eine Schlange schädigt mit ihrem Gift keine andere Schlange, während die Menschen einander schaden, wo sie nur können, wahrlich kein Kompliment für diese hochentwickelte Spezies. Zeitgeschichte schwingt bei solcher Thematik mit. Franke hat mit großer Sensibilität ein differenziertes Klangbild geschaffen, das der Gedankenwelt des Textes nachspürt und dem Chor viel Raum zur Entfaltung klanglicher Qualitäten bietet.
Der kurze Choral auf einen Text von Angelus Silesius von René Hirschfeld machte neugierig auf die beiden anderen ausführlicheren Teile der Geistlichen Gesänge, die bedauerlicherweise entfielen. Agnes Ponizil ließ in ihrem Chorwerk auf Texte von Schütz‘ 1. Madrigal, einem Korintherbrief aus der Bibel und von M. Gandhi viele Einzelelemente oder eher Fragmente der Schützschen Kompositionsweise aufscheinen, um sie in einem Mix mit einer zeitgenössischen Klangsprache zu vereinen.
Ein lehrreicher Vergleich erklang abschließend: »Frieden« von Christian FP Kram und Schütz‘ Bitte »Verleih uns Frieden gnädiglich«. Dessen Motette ist kurz und prägnant. Sie kommt mit wenigen, höchst einprägsamen Motiven aus. Im Gegensatz zu dieser knappen Form bediente sich Kram aller dieser Motive ausführlich im Wechsel von originaler Diktion und weiterführenden Paraphrasen. Das Anliegen war klar: es war die Bitte um Frieden, die in vielen Wiederholungen präsentiert wurde.
Ensemble Akadêmia: »Kreuzwege – Lebenswege«
12. Oktober, Schlosskapelle Dresden
Das Sächsische Immobilien-und Baumanagement hatte die Schlosskapellen-Baustelle für einen Abend fegen lassen und für die Aufführung freigegeben. Allerdings machten sich akustische Einschränkungen bemerkbar, da die meterhohen Eins-zu-eins-Entwürfe der Gemälde für den Altan im Großen Schlosshof die große Nordwand der Kapelle verdeckten und den Klang dämpften.
Der französische Schriftsteller und Essayist Jean-Pierre Siméon (geb. 1950) hat in dem kürzlich erschienenen Gedicht »Le Chemin de croix« die 14 Stationen des Kreuzweges Christi nachempfunden, was dieses schmerzliche Erlebnis für einen Menschen des 21. Jahrhundert bedeutet, voller Assoziationen zur gegenwärtigen außergewöhnlichen Situation. Wolfgang Pissors las erstmals eine bisher unveröffentlichte deutsche Übersetzung von Daniel Gerzenberg.
Die Dramaturgie dieses Abends war äußerst zwingend; sie begann mit dem Text und stellte die 14 Stationen des Kreuzweges von der Verurteilung bis zur Kreuzabnahme jeweils im Wechsel mit Kompositionen, die auf den Text Bezug nehmen, vor. Musik und Text folgten unmittelbar und ohne Pause, sodass man als Zuhörer keinen Moment aus dem Bann dieser Verbindung von Text und Musik entlassen wurde.
Der größte Anteil der Musik war Kompositionen von Schütz, den »Cantiones sacrae«, den »Kleinen geistlichen Konzerten« und der »Geistlichen Chormusik« entnommen: die gegenüber den Werken andere Komponisten unverkennbar aus der Werkstatt des Sagittarius hervorgegangen sind.
Das Ensemble Akadêmia ist von der an diesem Abend dezent agierenden französischen Dirigentin Françoise Lasserre 1986 in der schönen Region Champagne-Ardenne mit Unterstützung und Förderung durch den Dirigenten Philippe Herreweghe gegründet worden und tritt vorzugsweise in Frankreich und Italien mit einem umfangreichen Repertoire des 17. und 18. Jahrhunderts auf.
Trotz der akustischen Einschränkung entfalteten die zwei Violinen, drei Gamben, Laute und Orgelpositiv einen warmen Klang, wobei der Basso continuo ohne das kräftige Fundament des Violone und der Chitarrone etwas zu zurückhaltend ausgeprägt war. Eine besondere Herausforderung bestanden die drei Gambenspieler mit der »Fantasia cromatica« von Diomedes Cato. Nach fünfundsiebzig Minuten Spiel ohne Nachstimmen erklang das durch die Kreuzsymbolik mit chromatisch absteigender Quarte passende Stück für die dreizehnte Station (Kreuzigung) ohne Fehl und Tadel. Aus dem Solistenquartett mit Alice Focroulle, Sopran, Mélodi Ruvio, Alt, traten besonders die beiden Männerstimmen, Jan Van Elsacker (Tenor) und Robbert Muuse (Bariton) hervor, deren schlanke Tongebung sich den akustischen Gegebenheiten der Schlosskapelle gut anglich.
Festkonzert zum Heinrich-Schütz-Semester, Dresdner Kammerchor
14. Oktober, Musikhochschule Dresden „Carl Maria von Weber“
1619, ein Jahr nach dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, war die Welt in Dresden noch einigermaßen in Ordnung. Heinrich Schütz hatte, nachdem es um seinen Wechsel von Kassel nach Dresden diplomatisches Tauziehen zwischen den Landesherren Moritz von Hessen und Johann Georg I. von Sachsen gegeben hatte, seinen Dienst in Dresden 1615 angetreten und war nun 1619 bestallter Hofkapellmeister geworden. Sein Opus 2, die 26 Teile umfassenden »Psalmen Davids«, widmete er dem Kurfürsten. In den ersten vier Jahren konnte er sowohl die Stärken der Hofcantorey als auch die akustischen Bedingungen der Schlosskapelle ausreichend studieren. Und mit seinem Amtsantritt legte er ein Werk vor, das allen zeigen sollte, was der neue Hofkapellmeister zu schaffen im Stande war: Das Opus 2 war ein opus summum: Ob italienischer Madrigalstil, ob niederländische Motettenkunst, ob venezianische Mehrchörigkeit, ob stile moderno Monteverdischer Prägung, also Soli mit modernem Generalbass – alles wird aufgeboten für ein klangvolles Musizieren auf Bibeltexte in Deutsch von Martin Luther.
Hans-Christoph Rademann, seit langem ausgewiesen als herausragender Interpret der Musik von Schütz, hat im Konzertsaal der Musikhochschule alle Ecken, Emporen, Ränge für die Darstellung der Mehrchörigkeit genutzt. Dabei hatte er es ungleich schwerer als Schütz, der nur die Möglichkeiten der Schlosskapelle mit ihren Choremporen zu nutzen brauchte. Immerhin wurde eines klar: Die venezianische Mehrchörigkeit im Dom San Marco konnte nicht im ganzen Dom realisiert werden, wie man das immer wieder liest. Denn sobald zu weit entfernt voneinander stehenden Chören bei Einsätzen kleine rhythmische Finessen zugemutet werden, kann die Balance kippen. Deshalb fand die venezianische Doppel- oder Mehrchörigkeit nur im Chorraum von San Marco statt, wo sich zwei Emporen und mehrere sogenannte „Katzenstege“, also schmale Laufgänge befanden, auf denen sich bis zu acht kleine Chöre gegenüberstanden und einer vom anderen seine Einsätze problemlos übernehmen konnte. Wer selbst einmal doppel- oder mehrchörige Werke von Gabrieli gesungen hat, kennt das Problem. Schütz konnte diese Technik in seiner Lehrzeit in Venedig studieren; er muss fasziniert gewesen sein von ihren Möglichkeiten.
Für das Programm waren dreizehn Psalmen aus dem Gesamtwerk ausgewählt worden, die die oben genannten vielfältigen Möglichkeiten stilistischer und aufführungspraktischer Angebote nutzten. Es stand neben dem achtzehnköpfigen Dresdner Kammerchor, der das gesamte Werk von Schütz von 2009 bis 2019 auf CD aufgenommen hat, auch ein ebenso mit diesen Werken vertrautes Solisten- und Instrumental-Ensemble mit neun Vokalsolisten und drei Gamben, drei Zinken, vier Posaunen, zwei Theorben, Dulzian, Violone und Orgelpositiv, zur Verfügung, das den Intentionen des Dirigenten auf den kleinsten Wink folgte. Ging es doch darum, dem Klangfluss der Schützschen Musik zu folgen, die an der Prosodie des deutschen Textes orientiert ist. Zwar beklagte der Komponist häufig das Fehlen eleganter deutscher Texte, wie er sie aus dem Italienischen kannte, aber das Luther-Deutsch bot ihm die Gelegenheit, den Rhythmus der Worte mit dem musikalischen Rhythmus zu verschmelzen. So entstehen größere musikalische Sinnzusammenhänge, wie sie für Schütz‘ Werke so typisch sind. Rademann spürte diesen Vorgängen nach und gestaltete jeden Psalm in der ihm eigenen Weise. Es entstand neben dem aufführungspraktisch bestimmten bunten Wechsel der Besetzungen auch ein jeweils charakteristisches Erscheinungsbild jedes Psalms.
Wohl zu Recht waren Ausschnitte aus diesen »Psalmen Davids« zwei Mal (zuerst am 9. Oktober durch das Ensemble Vox Luminis) in diesen Wochen zu hören. Nach dem Abend in der Hochschule schwebte Hans-Christoph Rademann mit den Worten: „Das ist das Größte“ an mir vorbei. In dem Film »Heinrich Schütz – der Begründer der deutschen Barockmusik«, den Arte ausstrahlte, hatte er treffend gesagt: „Er fügt dem Wort mit der Musik das Unsagbare hinzu.“
Abschluss des Projekts »Singt Schütz 2022« des Kirchenchorwerkes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens
15. Oktober, Vesper in der Kreuzkirche Dresden
Das war der Nachmittag der sächsischen Kantoreien! Das sächsische Kirchenchorwerk hat nach eigener Darstellung „über 26.000 Mitglieder in mehr als 700 Kirchenchören und Kantoreien, über 500 Kurrenden und Kinderchören sowie ca. 400 Instrumentalkreisen in unterschiedlichsten Besetzungen und ist der größte Laienmusikverband Sachsens“. Aus der Erfahrung, dass das kirchenmusikalische Werk von Heinrich Schütz als Basis der sächsischen evangelischen Kantoreien gegenwärtig nicht mehr das Interesse aller Verantwortlichen der Landeskirche für Kirchenmusik, der Kantoren und der praktischen Tätigkeit der Kantoreien steht, haben sich die Verantwortlichen des sächsischen Kirchenchorwerks unter Leitung des Obmanns Ekkehard Hübler entschlossen, im April 2022 den sächsischen Kantoreien das Angebot zu unterbreiten, sich wieder intensiver mit der Musik von Heinrich Schütz zu befassen. Ein zusätzliche Anreiz war die Mitwirkung eines der führenden Ensembles für Bläsermusik der Renaissance, die »Capella de la Torre«, 2005 von der Oboistin und Schalmei-Spezialistin Katharina Bäuml in Berlin gegründet in der Besetzung mit Schalmei, Dulzian, Pommer, Laute, Posaune, Truhenorgel und Percussions-Instrumente.
Da die Musik von Schütz gegenwärtig meist nur von professionellen Chören gepflegt wird, war es ein Ziel des Chorprojektes, diese Werke einem breiteren Publikum und den Kirchgemeinden wieder bekannter zu machen. Kleinere Chöre wurden ermutigt, mit größeren Kantoreien zusammenzuwirken. Letztlich wurden neun Verbände ausgewählt. Deren vorbereitende Konzerte mit etwa 500 Mitwirkenden fanden ab dem 28. April in mehreren Städten statt. Prof. Martin Krumbiegel und Pfarrer i. R. Dietmar Selunka wirkten bei den vorbereitenden Konzerte der Kantoreien als Moderatoren und vermittelten Einblicke in das Zusammenwirken von Text und Musik. In der Kreuzkirche sangen ca. 300 Kantoreimitglieder aus Freiberg, Riesa, Borna, Oschatz, Dresden, Leipzig, Chemnitz , Wurzen und anderen. Bezeichnenderweise begann die Vesper mit einer Intrada von Moritz Landgraf von Hessen, dem ersten Dienstherren von Heinrich Schütz. Die Capella de la Torre mit ihrer Sopran-Solistin ergänzte das Programm durch weitere Stücke spanischer und italienischer Komponisten.
In kluger Auswahl wurden für die meisten Werke einzelne Chöre zusammengefasst; es erklangen Werke von Schütz, Hans Leo Hassler, Johann Crüger und Giovanni Gastoldi.
Welchen Eingang die Musik von Schütz in den evangelischen Gottesdienst genommen hat, wurde beim üblichen Gemeindegesang deutlich: Der Choral »Wohl denen, die das wandeln« ist der Sammlung der »Beckerschen Psalmen« entnommen, die Schütz 1661 für den ’normalen‘ Gottesdienstgebrauch veröffentlicht hat. Die komplexeren, mehrstimmigen oder gar doppelchörigen Motetten bedürfen einer gewissen Übung der Chorsänger und machen die Schwierigkeiten deutlich, die die Überakustik großer Kirchenräume den filigranen Schützschen Chorsätzen beschert. Damit müssen jeder Kantor und jede Kantorei klarkommen. Welche Möglichkeiten sich aber bieten, wenn zum Beispiel ein professionelles Bäserensemble verfügbar ist, ließ »Verleih uns Frieden gnädiglich« erkennen: Mit nur zwei Chören aus Riesa und Dresden wurde das bekannte Stück regelrecht „instrumentiert“, als die Bläser die Worte “der für uns könnte streiten“ markant unterstützten – ein eindrucksvolles klangliches Experiment, ganz im Sinne des Experimentators Schütz.
Der Nachmittag trat den erfreulichen Beweis an, dass auch eine kleine Gemeinde-Kantorei Schütz singen kann. Das sollte Ansporn sein, dass sich Kantoren und Kantoreien mehr zutrauen!
»Schütz Universum«: Szenische Klangbilder
Besuchte Aufführung: 2. November, Trinitatiskirche Dresden
Die Idee zu dieser ungewöhnlichen Aufführung hatte Isolde Matkey. In enger Zusammenarbeit schuf der Choreograph Andreas Heise die Inszenierung gemeinsam mit den Musikern Kian Jazdi und Arne-Christian Pelz, die in monatelanger Beschäftigung mit dem Werk von Heinrich Schütz einige Sätze auswählten und arrangierten. Es entstand ein faszinierendes Spiel für drei Tänzer, vier Sänger und drei Musiker, die sich dem Lebens- und Schaffenshintergrund sowie dem kompositorischen Werk von Schütz auf einer metaphorischen Ebene in zehn Bildern wie Ritual, Verstoß, Hoffnungsschimmer, Trennung, Konflikt, Eskalation, Alleinsein, Erkenntnis, neue Gemeinschaft näherten (siehe auch die Besprechung von Boris Gruhl). Es ging um menschliche Grundsituationen, wie sie schon in der Bibel zu lesen sind und die ihre Anregungen im Leben und Werk von Schütz fanden, ohne biografisch deckungsgleich zu sein. Grundlage waren dessen geistliche Werke, die ihm als Anker in seinem bewegten Leben dienten und aus den „Kleinen geistlichen Konzerten“, den „12 geistlichen Gesängen“, den „Symphoniae sacrae II“ und der „Geistlichen Chormusik 1648“ ausgewählt und entsprechend der Dramaturgie arrangiert wurden.
Die Musiker der Gruppe TOPOGRAPH, Magnus Sauer, E-Gitarre, Arne-Christian Pelz, Violoncello, und Kian Jazdi, Keyboard, Synthesizer und Orgel TOPOGRAPH haben sich dem eingangs erwähnten gleichen Respekt der Musik von Heinrich Schütz genähert. Sie haben eine klassische Ausbildung erhalten und sind als Solisten, Kammermusiker, Entwickler musikalischer Projekte, Theatermusiker mit vielfältigen Aufgaben in professionellen Ensembles tätig. Für dieses Projekt in Dresden war ihnen der respektvolle Umgang mit den Originalen wichtig. Diese Zurückhaltung war nicht nur bei den Arrangements der Werke von Schütz, sondern auch bei den vielen Eigenkompositionen deutlich spürbar, denn eine „Rockband“ kann ganz anders klingen, wenn die Regler aufgedreht werden. Trotz kraftvoller Passagen blieb der Sound immer sehr kunstvoll.
Wenn eine erfahrene, höchst disziplinierte Tänzerin wie Carola Schwab allein die Tanzfläche betritt, ausschließlich von einem Solo von Julia Böhme begleitet, die die Altstimme aus „Ich bin eine rufende Stimme“ darbot, dann wurde die Suggestivkraft der Szene „Alleinsein“ mit dem anschließenden Intermezzo „Hoffnung“ unmissverständlich deutlich. Eine andere Form der Annäherung wurde mit dem Beginn der Motette »Die mit Tränen säen« demonstriert. Diese kurze Phrase wurde über das Original hinaus mehrfach wiederholt, um einer bedrückenden Situation Ausdruck geben, bevor der nachfolgende Teil „werden mit Freuden ernten“ angeschlossen werden konnte.
Eingangs erklang der komplette vierstimmiger Satz des »Vater unser« mit Anna Palimina, Julia Böhme, Kyle Fearon-Wilson und Benjamin Mahns-Mardy in einer so zarten Weise, als sei es Musik aus höheren Sphären. Das Vokalquartett wurde im Folgenden in die Choreographie einbezogen, so dass neben Tanzsolo oder Pas de deux kompakte tänzerische Aktionen mit den weiteren Tanzsolisten Justine Rouquart und István Simon entstehen konnten, ohne dass die sängerische Qualität des Quartetts beeinträchtigt wurde.
Unter den Schütz-Adaptationen dieser Wochen war eine solche Darstellung wohl die am weitesten vom Original entfernte, obwohl die Kompositionen von Schütz in hoher Qualität dargeboten wurden. Gleichwohl ging eine faszinierende Kraft von der Choreographie und den Arrangements aus, die zeigten, welche Möglichkeiten sich aus einer intelligenten Aneignung eines über 350 Jahre alten kompositorischen Werkes ergeben und ein neugieriges, aufmerksames Publikum beeindrucken können. Es wurde mit dem tröstlichen Satz „Aller Augen warten auf dich“, der schließlich bis zum vollständigen Verstummen gesummt wurde, verabschiedet. Wie zu hören war, klang dieses Erlebnis bei mehreren Zuschauern intensiv nach – der beste Ausweis für ein nachhaltiges Erlebnis.
Festkonzert »Der Herr ist mein Hirte«
4. November, Kreuzkirche Dresden
Um den Todestag von Heinrich Schütz am 6. November ist schließlich der letzte Teil von SCHÜTZ22 gruppiert: Die Themenfestivals »Vom Leben«, vom 22. Oktober bis 26. November. Zum Eröffnungskonzert war das hier allbekannte und mit Musik des 17. und 18. Jahrhundert bestens vertraute Collegium 1704 mit dem Collegium Vocale 1704 unter der Leitung von Vaclav Luks eingeladen wurden mit durchweg geistlichen Werken aus den »Symphoniae sacrae III« von Schütz und den »Selva morale e spirituale« von Claudio Monteverdi, zwei Zyklen von überragender musikalischer Gestaltung und geistlicher Bedeutung.
Offensichtlich verbesserte sich nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges auch in Dresden die ökonomische Lage für die Hofmusik, sodass Schütz, nach den auf Sparflamme gesetzten »Kleinen geistlichen Konzerten« von 1638 mit den groß besetzten »Symphoniae sacrae« 1650 wieder an frühere Glanzzeiten in der Schlosskapelle anknüpfen konnte: es wird eine opulente Besetzung von fünf bis acht Stimmen aufgeboten. Darüber hinaus setzt Schütz in 16 der insgesamt 21 Kompositionen ein vier- bis achtstimmiges „Complementum“ ein, das nach Belieben vokaliter und/oder instrumentaliter besetzt werden kann. Davon machte Luks‘ Collegium ausgiebig Gebrauch. Die vollständige Besetzung, klangschön aufeinander abgestimmt mit zwei Violinen, Viola da gamba, Violone, Theorbe, Barockharfe, zwei Zinken und Orgelpositiv ist den zwölf Vokalsolisten in ebenfalls wechselnden Besetzungen ein ebenbürtiger und teils virtuos agierender Partner, wobei die beiden Zinkenisten besonders hervorzuheben sind.
Die vier ausgewählten Kompositionen »Der Herr ist mein Hirte«, »Siehe, es erschien der Engel«, »Feget den alten Sauerteig aus« und »Lasset uns doch den Herrn, unseren Gott, loben« vereinen alle von Schütz bislang erprobten kompositorischen Mittel und Techniken wie die Vereinigung von Capell-, Favorit-, Echo- und Instrumentalchören, kombiniert mit virtuosen Solopartien.
Damit stehen sie auf einer Stufe mit den vier Sätzen aus den »Selva morale e spirituale«: »Dixit Dominus«, »Beatus vir«, »Laudate, pueri« und »Gloria« aus einer Sammlung von siebzehn Kompositionen Monteverdis, die ihrerseits die Summe seiner geistlichen Werke aus drei Jahrzehnten Tätigkeit als Domkapellmeister an San Marco in Venedig sind und 1641, zwei Jahre vor seinem Tod, erschienen. Was Monteverdi um 1640 an stilistischer Vielfalt des Ausdrucks einzusetzen wusste, hat keiner seiner komponierenden Zeitgenossen je erreicht. Er entwickelte seine Tonsprache zunächst in den Gattungen Madrigal und Oper. In diesen weltlichen Formen erprobte er neue Ausdrucksmittel, bevor diese schließlich Eingang in seine geistlichen Kompositionen fanden. In einem Vorwort weist er auf die stilistische Vielfalt der Sammlung hin, die mit vier Stunden Gesamtdauer niemals für eine komplette Ausführung gedacht war. Ausgehend vom Text hört man daher auch sehr deutlich den Operndramatiker in mitreißenden Tuttipassagen, entsprechend temperamentvoll von Vaclav Luks herausgearbeitet. Das Klangbild war betörend schön und suggestiv.
Nur verlor man in der Fülle der sich überlagernden Klänge hin und wieder die Orientierung. Verstehen konnte man den lateinischen Text selten; gelegentlich boten einzelne Worte einen gewissen Anhaltspunkt. Nicht, dass die Sänger undeutlich gesungen hätten, im Gegenteil, die Sopransoli waren stets bestens zu verstehen, aber der lange Nachhall in der Kreuzkirche verhinderte, dass Text und musikalische Strukturen eindeutig wahrzunehmen waren – wiederum ein deutlicher Hinweis auf die unterschiedlichen akustischen Gegebenheiten in großen Kirchenräumen ohne entsprechende kleinere Klangräume, wie sie Monteverdi in San Marco und Schütz in der Dresdner Schlosskapelle zur Verfügung hatten. Bekanntlich hatte schon Rudolf Mauersberger in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts dieses Manko erkannt und speziell für die Aufführung von Werken von Schütz einen kleineren Raum in der damals ruinösen Sophienkirche gefordert.
Trotz dieser Einschränkungen hätte man den opulenten Klanggebirgen von Montverdi noch länger lauschen wollen. Dass aber eine Zugabe, wohl aus den »Symphoniae sacrae« nötig war, wollte ich nicht einsehen.
»Trostmusik«, Sächsisches Vocalensemble
5. November, Annenkirche Dresden
Am Vorabend der 350. Wiederkehr des Todestages von Heinrich Schütz erklangen die für das Begräbnis des Geraer Grafen Heinrich Posthumus Reuß am 4. Februar 1636 komponierten »Musikalischen Exequien«, eine dreiteilige Trauermusik, und als Uraufführung das Chorwerk »Und alles schrie« nach Texten des Leipziger Theologen und Librettisten Christian Lehnert, der auch Texte von Schütz‘ Zeitgenossen Jakob Böhme einbezogen hat.
Vor dem Konzert moderierte Matthias Herrmann ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Komponisten Bernd Franke und dem Dirigenten Matthias Jung. Beide haben seit ihrer Kindheit unterschiedliche, aber intensive Beziehungen zu Schütz: Franke ist in Weißenfels nahe der ehemaligen Gaststätte von Schütz‘ Großvater aufgewachsen und war im Kompositionsstudium bei Siegfried Thiele nicht nur mit Bach und Machaut, sondern auch mit Schütz vertraut gemacht worden. Dessen vokale Kunst war gewissermaßen zu einem selbstverständlichen musikalischen Urgrund geworden, der, ohne vordergründig zu sein, immer präsent ist. So konnte er auch im Vorfeld der Komposition des neuen Chorwerkes nach eigenen Worten die Musik der »Exequien« vergessen und sich ganz dem anspruchsvollen Text, dessen Assoziationen und philosophischen Implikationen von Licht versus Schatten, von Trost, Leiden und Hoffnung zuwenden. Wie aber nähert man sich als Komponist den Worten „Ein Schwingen / Laut und Schwingschlag / gesagt war nichts / doch nichts blieb sich von nun an gleich…“ (Lehnert) oder „Der Klang aber oder die Stimme steiget im mittleren Centro auf in dem Blitze / wo das Licht aus der Hitze geboren wird…“ (Böhme)? Indem man dem Klang der Worte nachhört, sie gut singbar in eine Partitur überträgt, sie ausschwingen lässt, Chorsolisten einzelne Passagen zur Verdeutlichung überlässt oder in aleatorischen, also improvisatorischen Partien dem Chor bestimmte, inhaltlich bestimmende Worte zur freien Nutzung als Sprechgesang überlässt, um Kontraste und sinnvolle gedankliche Abschnitte zu schaffen. So wurde man einbezogen in ein zutiefst tröstliches Ereignis, wenn auch der Zugang zum Text beim einmaligen Hören noch nicht gelingen konnte. Aber die Musik von Bernd Franke half durch ihre suggestive und emotionale Kraft. Herzlicher Beifall danke dem Komponisten und dem Ensemble.
Eine ähnliche überwältigende Wirkung ging von der exquisiten Aufführung der »Exequien« aus. Mit den 22 Sängerinnen und Sängern, unter ihnen die Vokalsolisten, entsprach die Stärke des Vocalensembles etwa der Hofcantorey zu Schütz‘ Zeiten, mit dem Unterschied, dass damals noch keine Frauenstimmen eingesetzt wurden. Dazu begleitete die Basso-continuo-Gruppe der Batzdorfer Hofkapelle mit Susanne Herre (Viola da Gamba), Stephen Rath (Laute), Sven Rössel (Violine) und Tobias Schade (Orgelpositiv), eine in ihrer dienenden Funktion völlig ausreichende Instrumentalformation.
Den ersten Teil der »Exequien« hat Schütz als „Concert in Form einer teutschen Begräbnis-Missa“ konzipiert, als einen Wechselgesang von Soli und Capella, mit so bekannten Passagen wie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“, „Herr, ich lasse dich nicht, du segnest dich denn“ oder „Unser Leben währet siebenzig Jahr“. Schütz hat für jeden Textabschnitt eine eigene Besetzung
gewählt, ist der Bedeutung einzelner wichtiger Worte nachgegangen und eine jeweils überzeugende musikalische Form gefunden, für die Matthias Jung eine ebenso überzeugende Interpretation gefunden
hat. Auch die Annenkirche hat einen gewissen Nachhall, aber im Gegensatz zum vorhergehenden Abend in der Kreuzkirche waren die Binnenstruktur, die jeweils wechselnden Ausdrucksformen eindeutig zu erkennen. Das wurde im dritten Teil der »Exequien« besonders deutlich, als der kleine Favoritchor (drei Stimmen und Laute) von der 2. Empore neben dem Altar im Canticum B Simeonis „Herr, nun lässest du deinen Diener“ die tröstlichen Verheißungen aus „englischer“ Höhe verkündete. Mit einigen ergänzenden Motetten aus der »Geistlichen Chormusik 1648« war dieses Programm eine eindringliche Ehrung für den Komponisten zur 350. Wiederkehr seines Todestages: interpretatorisch auf höchstem Niveau, programmatisch untadelig gestaltet.
2. Festkonzert zum Heinrich-Schütz-Semester 2022/23
6. November, Hochschule für Musik Dresden
Der Dirigent und Leiter des Hochschulorchesters Ekkehard Klemm wies eingangs auf eine historische Begebenheit hin: Johannes Brahms hatte in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Wien bedeutende Komponisten der Renaissance und des Barock entdeckt und sie, nicht zu aller Freude, gemeinsam mit eigenen Werken aufgeführt. Durch sein umfassendes musikhistorisches Wissen geschult, verwendete er im vierten Satz seiner 4. Sinfonie, die das Festkonzert abschloss, eine alte, strenge Form, die Passacaglia. So legitimiert, erklang weiterhin das Ricercar aus Bachs »Musikalischem Opfer« in der Bearbeitung von Anton Webern, das in seiner Strenge als himmlisches Ordnungsprinzip gegenüber dem von Menschen verursachten Chaos definiert wurde. In diesem Zusammenhang kann auch die Uraufführung von »Passio« gesehen werden, ein Orchesterwerk der 1996 im serbischen Novi Sad geborenen und in Wien ausgebildete Komponistin Hristina Šušak.
Dem im Orchester verbreiteten Chaos, wie zum Beispiel das fast ausschließliche col legno in den Streichern, stellen die Bläser ein lediglich aus zwei Tönen bestehendes Seufzermotiv entgegen, das sich am Ende in einen wunderbaren Dur-Akkord wandelte.
Nun aber Schütz: Der wohlklingende Chor der Lehramtsstudenten sang zwei der »Psalmen Davids« von 1619, „Ist nicht Ephraim mein teuer Sohn“ und „Danket dem Herrn“. Alles war da: Solisten, Chor, Continuo, Posaunen, Streicher und so weiter, aber es klang ganz anders als in den bisher gehörten Konzerten. Klemm hatte gewarnt: Aufführungspraktische Erwägungen spielten keine Rolle, sondern das gesamte musizierende Ensemble wurde eingesetzt, und man bekam einen Begriff davon, wie Schütz zu einer Zeit geklungen haben mag, als es die historisch informierte Aufführungspraxis noch nicht gab, als man mit dem vorhandenen modernen Instrumentarium eine erste Annäherung an die im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert noch fremde Alte Musik versuchte. Viel wichtiger als diese Erwägungen war allerdings der pädagogische Aspekt: die Studierenden einer Musikhochschule sollten alle in das Projekt einbezogen werden! Spezialisierungen auch im Hinblick auf Alte Musik, wie an der Dresdner Hochschule möglich, kommen erst später hinzu.
Zu Beginn stellte der Chor, einstudiert von Cornelius Volke und Burkhard Rüger unter dessen Leitung eine »Chorimprovisation zu Heinrich Schütz« vor. Grundlage war der Choral „Wohl denen, die da wandeln“ aus den 150 Vertonungen des »Beckerschen Psalter«, die Schütz 1628 begonnen hatte, und von denen viele ein fester Bestandteil des evangelischen Kirchengesangsbuchs sind.
In wohl bedachterer Abfolge wechselten improvisierte Abschnitte mit Choralzeilen, die zweite Strophe wurde vollständig dargeboten. Die Improvisations-Teile ließen den Choristen viele Freiheiten, mit Text- und Tonfragmenten spielerisch umzugehen, einerseits frei und zufällig und andererseits eingebunden in den gesamten Klangkörper zu sein. Das alles ließ sich mit dem Choral bestens verbinden, und so blieben für Heinrich Schütz das letzte Wort und der letzte Ton.