Ein erster, leiser Ton, noch dunkel. Das Orchester spannt eine weite, flache Landschaft auf. Bis zum Horizont blicken wir, allmählich wird es heller, werden Konturen erkennbar. Die ganz kleinen und ganz großen Intervalle evozieren Verlorenheit. Und dann geht der Blick hoch – zu zwei Engeln… Diese Art Kopfkino spult sich bei vielen Werken des Komponisten Alexander Keuk ab. Seine Musik spricht, assoziiert, arbeitet mit rhythmischen Formen und Melodielinien, die an Malerei denken lassen, der Inhalt der Musik wird geduldig aufgebaut: einzelne Gedanken werden in Abschnitte gegliedert und jeweils befragt und – wenn für gut befunden – weitererzählt.
Gelegenheit, verschiedene Kompositionen Alexander Keuks aus verschiedenen Entstehungszeiten kennenzulernen, boten jüngst zwei Konzerte: eines in der Motorenhalle, dem Projektzentrum für zeitgenössische Kunst, eines in der Himmelfahrtskirche Leuben. Für letzteres hat Alexander Keuk im Auftrag des „Chorus 116“ das raumgreifende »Duo Seraphim« geschrieben, ein Werk nach Bibeltexten und Textbausteinen des Schütz-Zeitgenossen Johannes Scheffler, genannt Angelus Silesius, für Gesangssolisten, Chor und Orchester. Der neue Leiter des Ensembles, Wolfgang Hentrich, moderierte es an und erinnerte an den verehrten Chorgründer Christian Hauschild, dem das Konzert gewidmet war. Alexander Keuk ließ selbst die bewegte Entstehungsgeschichte des Werks, dessen Uraufführung drei Mal verschoben werden musste, kurz Revue passieren, bevor die beiden Engel – die Sopranistinnen Johanna Kaldewei und Leila Schütz – endlich aufsteigen durften. Der Tenor Florian Sievers lieh dem Angelus seine Stimme, Chor und Philharmonisches Kammerorchester lautmalten das Bühnenbild für die Protagonisten. Und obwohl die Tonsprache weitgehend atonal blieb und der Komponist mit polyphonen Schreien, Zischlauten und anderen klanglichen Mitteln arbeitet, die den Laienchor selbst (Einstudierung: Christoph Frenzel) und auch das vermutlich hier ja eher traditionsverbundene Publikum durchaus herausforderten, fiel der Beifall in der ausverkauften Leubener Kirche sehr freundlich aus.
Das allerjüngste Werk Alexander Keuks ist eine FERMATA, und das bedeutet eben nicht nur einen musikalischen Haltepunkt, sondern im zweisprachigen Südtirol, wo Alexander Keuk den letzten Winter verbracht hat, auch „Station“, „Rast“ oder „Haltestelle“. In FERMATA werden mehrere dieser Lebensstationen per Zuspielband abschnittsweise akustisch zum Leben erweckt und von einem kleinen Streicherensemble – zur Uraufführung Mitglieder der Sinfonietta Dresden – instrumental und sprachlich umspielt und atmosphärisch weiter aufgeladen. Hier reisen wir nun ganz weltlich mit dem Komponisten, dem Dresden dreißig Jahre lang eine Heimat war: Zug- und Tramgeräusche lassen an Steve Reichs 34 Jahre altes Werk »Different Trains« denken; wir kommen zur Ruhe in einer alten Villa, durch deren Türen der Westwind pfeift, und in deren Dachgeschoss ein verstimmtes Harmonium steht. Dann aber geht die Klangreise weiter, chorale Fetzen eines Schützschen Psalms und alptraumhafte Glocken- und Orgelsequenzen zucken auf, und ein widerspenstiger Handtuchspender quält sich hörbar missmutig mit dem Ausspucken des Papiers…
Nicht vergessen werden soll das im Konzert vorangestellte »distraire«, uraufgeführt vor einem Vierteljahrhundert hier in Dresden. Die Geigerin Uta-Maria Lempert interpretierte das frühe Werk, das mehrere Iterationen ein- und derselben Grundidee aneinanderreiht, abwandelt und dabei immer spannender und verwirrender wird, hochkonzentriert-streng und doch mit Verve und Leidenschaft. Erstaunlich, wieviel Gedankenmaterial von FERMATA und auch von den »Seraphim« hier schon angelegt sind.
Eine Textfassung des Artikels ist in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.