Ich hätte dieses Werk gern als Musik in Dresden gehört, denn hier gehört die Uraufführung hin. Stattdessen hatte Peter Gülke, der in Brandenburg von 2015 bis 2020 die Chefposition innehatte, sich das Werk schon 2018 als Auftragswerk für die Brandenburger Symphoniker gesichert, deren Aufführung aber wegen Corona von 2020 auf den 25. November 2022 verschoben werden musste.
Vor dem Erklingen der Sinfonie erläuterte Wilfried Krätzschmar, dass er zunehmend mit Bestürzung die Verrohung, das wachsend Abgründige statt eines Miteinander in der gegenwärtigen Gesellschaft wahrnehme. Verbunden mit der Radierung von Francisco Goya »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« und einem mahnenden Gedicht »Das Wesen Mensch« von Reiner Kunze erwuchs diese Sinfonie als Trauer und Mahnung.
Nun kennen wir den Komponisten als einen freundlichen, bescheidenen, gesetzten, scharfsinnig denkenden und formulierenden Zeitgenossen, nicht aber als einen Ideologen, der uns, wie zum Beispiel Richard Wagner, unentwegt von der Richtigkeit seiner Ideen überzeugen will. Nein, seismographisch nimmt er Strömungen aus seiner Umwelt auf, die subkutan oder auch offensichtlich vorhanden sind und formuliert daraus musikalische Kunstwerke. Das war zuletzt in seinem »Ersten Gesang aus Gesängen für Bariton und Orchester – Wir sind ein Teil der Erde« zu erleben, als er eine Rede des Häuptlings Seattle vom Indianer-Stamm der Duwamish. die dieser 1855 vor dem Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hielt, vertonte – ein eindringlicher, fast 170 Jahre alter Appell an die Vernunft, die Grundlagen des Lebens auf unserer Erde zu bewahren, uraufgeführt von der Elbland-Philharmonie am 11. September diesen Jahres.
Das »Nachtstück«, seine 6. Sinfonie, war ein apokalyptischer Parforceritt, bei dem man in Deckung gehen musste, als gewaltige Klangmassen über die Zuhörer hereinbrachen. Doch so pointiert Krätzschmar seine Prosa-Texte formuliert, so ziseliert war auch dieses Werk trotz seiner klanglichen Ballungen gestaltet. Formal einsätzig als ein großes Rondo angelegt, in zwei deutlich voneinander abgesetzten, sich wiederholenden Episoden, von Mal zu Mal kompakter, schrauben sich die Klangbilder spiralförmig zu immer schmerzvollerer Wucht auf und lassen ahnen, welche Kräfte in der Gesellschaft wirken: abgestorbene Menschlichkeit, Gewissenlosigkeit, Trauer, Hoffnungslosigkeit. Dazwischen sind drei kürzere Postludien gesetzt, lediglich als Streichersatz unter einer trauernden Melodie des Englischhorns, als Inseln der Hoffnung. Sie setzen dort ein, wo die Musik vor der Fülle des Schmerzes versagen will. Nach einem bleiernen Kondukt am Ende der Sinfonie erklingt diese Stimme der Hoffnung noch einmal, sehr kurz, aber unvergesslich.
Die Brandenburger Symphoniker hatten sich, angespornt durch den hoch motivierten Dirigenten, diesem Werk mit aller ihrer Energie zugewandt und zeigten sich selbst nach der Generalprobe tief betroffen von diesem 40 Minuten langen Werk. Um den Zuhörern den Zugang zu erleichtern, nahm Peter Gülke als profilierter Musikwissenschaftler die Gelegenheit wahr, sowohl den Komponisten zu Wort kommen zu lassen als auch selbst ausführlich einzelne Teile mit dem Orchester vorab zu präsentieren und Hinweise auf die Struktur zu geben. Dass er dabei mit Verweis auf das Ende des »Dr. Faustus«-Romans von Thomas Mann eine andere Erwartung weckte, war in diesem Falle nicht unbedingt nötig.
Als Entdeckung wurde zudem die 1. Sinfonie c-Moll von Emilie Mayer (1812-1883) angekündigt, die es um 1830 wagte, nach Beethovens 5. Sinfonie einen anderen Ansatz für eine Sinfonik nach der Wiener Klassik zu finden, wie er für die Zeitgenossen Mendelssohn, Schumann und andere ebenfalls notwendig wurde.
Wenn ich anfangs zu bedenken gab, dass ich eine Aufführung der 6. Sinfonie von Wilfried Krätzschmar
gern in Dresden gehört hätte, so sollten Konzertveranstalter nicht vergessen, dass der Komponist 2024
seinen 80. Geburtstag begehen wird.