Die Semperoper ist ausverkauft, einen Abend nach dem anderen, obwohl nicht mal eine Premiere angesetzt war, sondern „lediglich“ die Wiederaufnahme von Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«. Noch dazu in einer zwanzig Jahre alten Inszenierung und obendrein für reichlich gepfefferte Kartenpreise!
Wenn aber Chefdirigent Christian Thielemann und „seine“ Sächsische Staatskapelle mitsamt einer namhaften Solistenbesetzung Wagners Opus Magnum aufführen, lohnen sich vermutlich noch der weiteste Weg und auch die teuersten Karten. Dann werden mehr als 16 Stunden Lebenszeit aufgeboten, um sich vier Abende lang von »Rheingold«, »Walküre«, »Siegfried« und »Götterdämmerung« in betörende Klangwelten versetzen zu lassen. Wie jeder wahre Genuss ist natürlich auch dieser mit einiger Anstrengung verbunden – und wird qualitätsvoll belohnt!
Dass Wagner-Fans aus aller Welt nach Dresden reisten, ist vielsprachiger Ausdruck dafür, wie sehr Thielemann und Staatskapelle in ihrer Verbundenheit für die Opulenz dieses Musik stehen. Schließlich gilt das Orchester schon seit Wagners Zeiten als dessen „Wunderharfe“ und Christian Thielemann ohnehin als der momentane Wagner-Spezialist. Wahre Fans nehmen dafür so ziemlich alles auf sich. In den Pausen waren alle möglichen Sprachen zu hören, da wurde debattiert, wer wann, wo und mit wem welchen »Ring« wie oft erlebt hat, welche Dirigenten, Sängerinnen und Sänger unvergessen sind – natürlich auch, welche Inszenierungen. Da ist also niemand zufällig im Touristenpulk nach Dresden gekommen. Die Leute wollten diesen Wagner mit diesem Orchester und diesem Dirigenten hören.
Christian Thielemann hat die Partitur mehr als durchdrungen, er bringt die vielen unterschiedlichen Klangfarben zum Flackern, zum Leuchten, zum Brennen. Damit können selbst die sachlichsten Wagner-Analytiker in Freudentaumel versetzt werden, denn noch nach jahrelanger Erfahrung lässt sich in dieser Diktion immer noch Neues heraushören. Während sonst bei Wagner am Pult gerne getobt wird, hält sich Thielemann mit seiner Gestik mehr und mehr zurück, setzt immer kleinere Zeichen, sorgt mit einem Maximum an Konzentration – die vom Graben auf die Bühne weht und unumwunden ins Parkett und zu den Rängen strömt – für Pracht und Präzision. Trotz hier und da mal kieksender Hörner und einzelner, vor lauter Aufregung zu früher Einsätze: So klingt Überwältigungsmusik!
Ein »Ring« vom Feinsten
Man sieht dem Dresdner »Ring« kaum an, das er bereits vor rund zwanzig Jahren herausgekommen ist. Unvergessen sind zwar auch die Klanggewalten, die Semyon Bychkow mit »Rheingold« und »Walküre« ausgelöst hat, sowie die unter Michael Boder hervorgerufene Faszination von »Siegfried« und »Götterdämmerung«. Doch die Inszenierung von Willy Decker im Bühnenbild von Wolfgang Gussmann, der die Kostüme gemeinsam mit der damaligen Kostümdirektorin (im Sommer vorigen Jahres leider verstorbenen) Frauke Schernau entworfen hatte, wirkte zur Premiere etwas verstörend, beinahe nichtssagend. Nun aber, mit zwanzig Jahren Abstand, ist diese Dresdner Koproduktion mit dem Teatro Real Madrid als absolut zeitlos zu empfinden gewesen, als höchst anregend und ausdeutbar. Die assoziativen Bilder mit jeder Menge Theatergestühl auf der Bühne, was mal gewölbt für die Wellen des Rheins steht, mal für den Prunk von Walhall, dann aber auch für den von Feuer umgebenen Brünnhilde-Felsen, fordern den Darstellerinnen und Darstellern zwar nach wie vor sportive Höchstleistungen ab, aber ganz offensichtlich ist für die Wiederaufnahme auch szenisch noch einmal ganze Arbeit geleistet worden.
Zumal eine höchst namhafte Solistenbesetzung für diesen Zyklus gewonnen werden konnte, die das Publikum während der ersten vier Abende – im Semperopern-»Ring« herrscht gerade Halbzeit – zu frenetischen Applausorgien hingerissen hat. Ob Markus Marquardt mit seinem kurzfristig übernommenen Rollendebüt als fieser Alberich (und als solcher zunächst noch recht freizügig mit dem gesungenen Wort), ob die wunderbare Christa Mayer erst als gestrenge Fricka in »Rheingold« und »Walküre«, dann als Allmutter Erda im »Siegfried«, ob Vorzeige-Bass Georg Zeppenfeld als Riese Fasolt und später als mordender Hunding – all diese mit dem Haus schon lange verbundenen Persönlichkeiten waren den auswärtigen Gästen absolut ebenbürtig. John Lundgrens Wotan etwa, ein ebenso betörender Sängerdarsteller wie der Loge von Daniel Behle, der unverkennbar viel Freude an dieser ausdrucksstark gesungenen Partie gehabt hat. Allison Oakes Sieglinde, so liebenswert frisch mit viel Emotion in ihrem Sopran wie Anna Gablers Gutrune in der »Götterdämmerung«, wo die große Waltraut Maier übrigens als Waltraute nochmal für eine Überraschung gesorgt hat. In dieser Rolle hatte sie einst begonnen und dann alle großen Wagner-Partien von Kundry, Ortrud, Venus und Sieglinde bis hin zur Isolde gesungen. Da nun ihr selbstverordneter Bühnenabschied bevorsteht, war die Rückbesinnung auf diese Partie eine mehr denn noble Geste. Adrian Eröd wäre als getrogener Gunther zu nennen, Stephen Milling als imposanter Fafner-Riese und böser Hagen, nicht zuletzt natürlich auch sämtliche Rheintöchter, Walküren und Nornen – durchweg großartig besetzt! Aber die vielleicht größten Heroen in diesem »Ring« sind vielleicht doch Andreas Schager als Siegmund und Siegfried sowie Ricarda Merbeth als Brünnhilde gewesen. Beide haben jeweils drei Abende lang brilliert! Ein kraftvoller Heldentenor und eine bis zuletzt unermüdliche Sopranistin, die beide wirklich Großes geleistet haben und sich dabei auch noch höchst wandlungsfähig gezeigt haben, erst jugendlich vokaler Leichtmut, dann seriöse Strenge, die das längst überfällig gewordene Abtreten der parasitären Götterwelt aus dem menschlichen Diesseits weniger rachelüstern als erkenntnisreich auf den Punkt gebracht hat.
Nicht verschreibungspflichtig: Eine klingende Droge
Wagners Musik, so überwältigend umgesetzt wie in diesen vier langen Vorstellungen, hat die Wirkung einer klingenden Droge und ist nicht mal verschreibungspflichtig. Man muss nur eine der (für Dresdner Verhältnisse) teuren Karten ergattern – und ein Haus finden, dem solch ohnehin mit gewaltigem auch finanziellem Aufwand bestrittenen Vorzeigeproduktionen noch die nicht unerheblichen Zusatzkosten von Umbesetzungen während der Endproben möglich sind.
Der begeisterte Dank des internationalen Publikums war allen Beteiligten freilich gewiss. Zu jeder Pause und nach jedem Abend gab es immensen Applaus – und auf den ohrwürmelnden Abgesag der »Götterdämmerung« folgten lange Sekunden absoluten Schweigens im Saal. Diese Gemeinschaftsmomente waren vielleicht sogar noch ergreifender als der dann losbrechende Jubelorkan.
»Der Ring des Nibelungen«, zweiter Zyklus vom 5. bis 10. Februar 2023. Wenige Restkarten von 110,- EUR (»Rheingold«) bis 230,- EUR (»Götterdämmerung«).