„»Pippin – Die Kunst des Lebens« ist unverkennbar ein Musical seiner Zeit“, leitet der Dramaturg Mark Schachtsiek im Programmheft des neuen Musicals seinen Text über Generationenkonflikt und Selbstbefreiung ein. Schachtsiek schreibt von Metatheatralität und „vierter Wand“, von partizipativen Prozessen und rassistischen Konnotationen, und versucht so quasi über einen kunsttheoretischen Zugang zu einem nun schon fünfzig Jahre alten Musical zu erklären, was das Dresdner Publikum derzeit wahrscheinlich auf eine viel intuitivere Art zu erfühlen versucht. Nämlich: was sagt uns dieser Pippin eigentlich heute noch, und warum lohnt es sich, ihm an der Staatsoperette eine Bühne zu geben?
Liest man sich vor der Vorstellung ein bisschen ein über das Stück, lassen sich am Anfang vielleicht nur schwer Gründe dafür finden. »Pippin«, Kind einer Zeit der musikästhetischen Sinnsuche, die die gesellschaftlichen Umbrüche der Vereinigten Staaten während der „Sixties“, ihre neuen Verheißungen, aber auch ihre Enttäuschungen und neue Resignationen irgendwie zu spiegeln suchte, scheint ja erst einmal gut geeignet zu sein, um ähnliche Entwicklungen unserer Zeit, Fatalismen anhand neuer Kriege etc., zu ‚bearbeiten‘. Andererseits stellten sich für mich zwei Fragen: warum muss es dafür ein so zerrissenes, fragmentarisches, recht chaotisches und vor allen Dingen in vielen Aspekten (beispielsweise eben dem zynisch-zerstörerischen, damals männlichen ‚leading player‘) eben doch ziemlich schlecht gealtertes Werk sein? Und zweitens, würde sich die Staatsoperette Dresden, ein ihrem liebevoll-konservativen Publikum grundsätzlich verpflichtetes Haus, an der Schere zwischen Metatheaterdiskurs und verständlichem Unterhaltungswunsch nicht hoffnungslos verheben?
Wie immer hat das Team der Staatsoperette (Regie: Simon Eichenberger, Dramaturgie: neben Schachtsiek die Hausdramaturgin Valeska Stern) dafür einen klugen Weg eingeschlagen: bestimmte, kitzlige Aspekte des Werks entschärft oder geschickt gebrochen (oder kühn umkurvt) und dabei auf der anderen Seite für Ohr und Auge wirklich leckeres Futter aufgetischt, so dass man einen Besuch sicherlich nicht bereut, ob man nun theaterkritisch aufmunitioniert oder schlicht an einem ’schönen Abend‘ interessiert ist. Der kritischste Part des Stücks, der ‚Leading Player‘, der das Bühnenpersonal wie ein dämonischer Prinzipal regiert, gegeneinander wirft, zynisch der Vernichtung preisgibt und damit sicherlich gut in eine selbstreferentielle Erweckungsbewegung des Musicals vor fünfzig Jahren passte, ist heute (wie in der 2013er Revival-Inszenierung am Broadway) mit einer Frau besetzt, was der Rolle eine andere Färbung und einen anderen, weniger zerstörerischen Zugriff auf das Werk gibt. Andererseits wird angesichts dieser Rolle, die Kerry Jean als Gast mutig und pointiert ausfüllt, meiner Meinung nach auch am deutlichsten klar, dass diese „Pippin“-Inszenierung eigentlich an ihren wichtigsten Knackpunkten, in ihren kitzligsten Problemzonen keine überzeugende Lesart gefunden hat. Ist das „Ta-daaaa!“, mit dem der Leading Player neue Bilder präsentiert und den Fortgang der Handlung weiterträgt, nun stolz und ernstgemeint und freudig – oder hoffnungslos, resigniert, grausam, düster grundiert? Und wenn es beides ist: braucht es für diesen doppelbödigen, selbstreferentiellen und gesellschaftlich aufrührenden Zugang die pompös aufgepimpte Orchestrierung, die Koen Schoots für die Dresdner Inszenierung neu geschaffen hat (und die – selbstredend – das Orchester unter Peter Christian Feigel in charakteristischer Manier umgesetzt hat), oder übertüncht sie die vielen kleinen Verletzungen, die Denkanstöße und leisen Hoffnungen des Stoffes nicht eigentlich? Das Premierenpublikum, wussten die Dresdner Tageszeitungen zu berichten, scherte sich um diese verkopften Dinge offenkundig wenig. Es feierte – zu Recht – eine rundum gelungene, sängerisch, tänzerisch und darstellerisch absolut überzeugende Neuproduktion. Über die Frage, ob dieser »Pippin« eher Feldschlößchen (der alteingesessene Staatsoperetten-Sponsor) oder Lohrmann-Bräu (das hippe, zeitgenössische und doppelbödig-humorvolle Craftbier-Startup, das seit neuestem am Kraftwerk Mitte beheimatet ist) sein möchte, wird noch zu reden sein.
Nächste Vorstellungen: 25., 26. Februar; 7., 8., 9., 10. April