Ein selten gegebenes Ballett, zauberhaft realisiert: Eine Ermunterung also zu einem Ausflug in die goldene Stadt…
Der Schäfer James will heiraten. Seine Braut Effi will es auch. Am nächsten Tag soll die Hochzeit sein. Wir befinden uns im schottischen Hochland, zur Zeit, als es dort noch Feen gab – von denen dem Bräutigam eine Sylphide, eine kleine geflügelte Waldfee, erscheint. Die Sylphide verliebt sich in den Schäfer, er in die Fee; aber auf seine Braut will er dennoch nicht verzichten. Der flotte Kerl im Schottenrock dünkt sich ganz schlau: Wenn es Feen geben kann, dann auch Hexen wie Old Mage. Sie flüstert der ahnungslosen Braut zu, dass da noch ein anderes Wesen im Spiel ist. Das mündet in einer Fassung von Peter Schaufuss in einen phantastischen Tanz des Mannes mit seinen zwei Frauen, deren eine aber nur er sehen kann. Diesen Pas de trois vermisst man leider in Kobborgs Choreografie. Dennoch: der Drang zum Außergewöhnlichen, zum Geheimen der Wünsche und Phantasien ist so stark, dass James von der Trauungs-Zeremonie weg, seiner Fee in den Wald folgt. Es wird ein Weg in den Tod, weil die Sylphide in seinen Armen stirbt, weil er das Geschöpf der Fantasie bannt, ins menschliche Maß zwingt und sterblich macht. Eine romantische Allegorie im Gewand des Märchens mit folkloristischen Zügen, die nach Musik und Tanz geradezu verlangt, weil es der Worte nicht bedarf, um die Ambivalenz dieser erotischen Fantasien in den Kopf des Betrachters zu projizieren. Tänzerisch geht es auch aus der Welt des Realen im rustikalen Raum des ersten Bildes mit lebensfroher Farbigkeit, im zweiten Teil in die nächtliche, mondbeglänzte, weiße Szenerie erdentrückter Schwerelosigkeit jener weißen Bilder, die fortan die Ästhetik des klassischen Balletts prägen werden.
Eine besondere Stunde des klassisch-romantischen Balletts. Viel länger benötigt der Choreograf Johan Kobborg für seine »Sylphide« gar nicht. Wir erleben die Prager Fassung nach August Bournonvilles Kopenhagener Version von 1836 zur Musik Herman Severin Løvenskiolds, gespielt vom Orchester der Prager Staatsoper unter der Leitung von Piotr Staniszewski; für die Bühne zeichnet Martin Černý, für die Kostüme Barbora Maleninská verantwortlich. Diese Stunde hat es in sich. Historisch, ja, dennoch gänzlich staubfrei und kraft eines solchen Ensembles so authentisch wie zeitgemäß. So vermittelt sich dieser hier verhandelte romantische Grundkonflikt zwischen beschränkter Wirklichkeit und erstrebenswerter, aber unsichtbarer Welt idealer Fantasie. Die Handlung spielt sich zwar in einer Welt der Realität ab, in der sich aber bald die Grenzen der Wahrnehmung auflösen. Es ist der Tanz, dem es möglich ist, jener märchenhaften Zerbrechlichkeit vor der Wirklichkeit flüchtender Fantasien Gestalt zu geben.
Die Prager Premiere, stürmisch bejubelt vom begeisterten Publikum in der Prager Staatsoper, hat beste Voraussetzungen. Da sind die Tänzerinnen und Tänzer in den so raffinierten wie anspruchsvollen Bildern der Gruppen: Farbenfroh, fröhlich, ausgelassen Frauen, Männer, Kinder, im ersten Bild. In der Poesie weißer Romantik die schwebenden Tänzerinnen in geradezu magischer Geometrie im Dialog der Gruppe mit den drei Solistinnen Victoria Victory Gonzalez, Martelle Cho und Olga Begoliubskaja. Dazu ein außergewöhnliches Quintett grandioser Solistinnen und Solisten. Ja, sie beherrschen die hohen Anforderungen klassischer Techniken, aber dieses Können wird keinen Augenblick zur Demonstration. Es ordnet sich stets der szenisch bedingten, individuellen Kunst des inhaltlich und persönlich begründeten Ausdrucks zu. Und dies gelingt sogar in den sicher historisch anzusehenden Momenten pantomimischer Vorgaben wortloser Kommunikation. Lässt sich gut lösen, gänzlich staubfrei, bei charmantem Augenzwinkern.
In der Titelrolle ist Alina Nanu von höchster technischer Brillanz. Keine Frage. Aber ihr „Schweben“, ihr abhebender Tanz grandioser Spitzentechnik, löst sich nie von den phantastischen Vorgaben dieser Handlung. Vor allem nie von denen der Wahrnehmung und des egoistischen Missverständnisses des Schäfers James. Paul Irmatov gelingt es in dieser widersprüchlichen Rolle, den Tanz innerer Zerrissenheit sichtbar zu machen, jenen schmalen Grat zwischen beinahe knabenhafter Unschuld und männlicher Besitzgier tänzerisch zu gehen. Das ist seine tänzerische Kunst bei bester Technik und vor allem uneingeschränktem Mut zu persönlicher Verletzlichkeit. Irina Burduja ist die verlassene Braut Effi. Wir sind im Märchen; es gibt jemanden, der für sie die Arme ausbreitet. So wie dies der Tänzer Matěj Šust, jedenfalls in charmanter, tänzerischer und darstellerischer Kunst in, der Rolle des Gurn macht, kann man der Braut Effi nur gratulieren. Und wie tanzt man eine Hexe? Vor allem eine, wie hier die der Magde, die dieses ja doch so wirklichkeitsnahe Traumspiel beendet: Für James heißt das, es ist aus, bleib am Boden, vor allem auf dem der Tatsachen. Die Prager Tänzerin Tereza Podařilová vermag es in dieser Rolle einer dunklen Gestalt, die vielleicht aber doch dem Licht der Tatsachen näher ist, als man meinen könnte, so richtig zu glänzen.
Das ist eine wunderbare Story aus dem erotischen Märchenwald. Nur der Tanz scheint die angemessenen Mittel des Ausdrucks zu besitzen, Verzauberung und Verwirrung, Traum und Wirklichkeit, den Widerschein des Unbegreiflichen Assoziationen und Bilder zu geben. Ein Ausflug in die Vergangenheit, der geradewegs in die Gegenwart führt.
Wieder am 20. Mai (14 und 19 Uhr), dann erst wieder im April 2024.