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„Paganini setzt schwarz hart gegen weiß“

Foto: Patrick Böhnhardt

Kevin Zhu, Sie haben diese Woche bei den Musikfestspielen in Kooperation mit dem Moritzburg Festival gleich zweimal den Mount Everest der Geigenliteratur, Paganinis 24 Capricen, erklommen. Wie fühlt man sich in diesen luftigen Höhen so ganz ohne Sauerstoffflasche?

Es ist schon ein besonderes Gefühl. Jeder Musiker oder jede Musikerin, die den Aufstieg wagt und alle 24 Capricen in einem Konzert am Stück spielen will, muss sich fragen: Warum will ich das – und wie erlebt das Publikum diese waghalsige Kletterpartie? Zählen sie im Kopf von 1 bis 24 mit, oder verzählt man sich irgendwann und verliert sich in der Musik? Das ist einfach ein Brocken! Man muss das Ganze so zugänglich wie möglich gestalten, und das ist keine einfache Aufgabe. Diese Stücke sind äußerst kompliziert, voller Energie und mit hoher Oktanzahl. Aber wenn man als Interpret Kreativität, Lebendigkeit und eine gewisse Leichtigkeit hineinlegt, dann erlebt man eine ganz neue Welt. So wie bei einem Spaziergang durch eine Ausstellung sieht man ein Bild, und noch eins, und noch eins … und so geht das immer weiter. Und jedes Bild zeigt eine neue Landschaft. So erkundet man in anderthalb, fast zwei Stunden Paganinis Klangwelt und die Welt der Geige.

Meist hört man einzelne Capricen als Bravourstücke, als Zugabe oder Highlights in einem Konzert. Was verändert sich, wenn man sie als Zyklus begreift?

Als ich zum ersten Mal alle 24 am Stück gespielt hatte, war es ein bewegendes Gefühl, am Ende auf dem Gipfel zu stehen. Man merkt, dass die letzte Caprice, No. 24, alles beinhaltet, was einem zuvor in den 23 Capricen schon begegnet ist. Wie in einer abschließenden Explosion kommt alles zusammen. Dabei habe ich die Caprice 24 sehr oft als Zugabe, aber auch zu anderen Gelegenheiten als Einzelstück gespielt. Spielt man sie aber, nachdem man den Reigen von Nummer 1 bis Nummer 23 durchlaufen hat, erlebt man sie als Kartharsis. Man ist allein mit der Geige. Alles andere verschwindet, nachdem man all seine Energie, Herz und Seele gegeben hat. Man bleibt allein mit der Musik.

Und wie verändert der Zyklus die Sicht auf jedes einzelne der vielen Glieder dieser Kette?

Wenn man eine Caprice herausgreift und sie einfach so für sich spielt, ist es zum Teil einfacher und zum Teil schwerer. Es ist einfacher, weil es einfach weniger Arbeit ist, man läuft keinen Marathon, und schwerer, weil man in einem Stück eine ganze Welt erschaffen muss. Dieses Ziel bleibt natürlich bestehen, wenn man sie als Zyklus aufführt. Aber der Zyklus erlaubt mir weichere Übergänge, und ein Spiel besonders mit dem Schluss jeder Caprice. Wenn man alle Enden mit derselben Bravura spielt, wäre es sehr schnell langweilig. So suche ich nach Capricen, die ich leise ausklingen lassen kann, um dann direkt in die nächste überleiten zu können.

Die Herangehensweise unterscheidet sich also grundlegend?

Spielt man eine Caprice als Einzelstück, ob als Zugabe oder als Prüfungsstück an der Hochschule, will man ein Ende mit viel Substanz. Es ist vor allem ein Test der eigenen Spieltechnik. Spielt man sie hingegen als Zyklus, fordert es dich als ganzen Musiker. Es ist nicht nur die Ausdauer: du testest deine Technik, deine Musikalität, deine Kreativität. Und deine Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Paganini ist einfach ein verrückter Komponist. Man muss als Interpret seinen Witz einfangen. Man braucht sowohl die nach außen gerichtete Brillanz als auch ein inneres Verständnis dieser Musik. Was passiert emotional? Wie hängen die Harmonien zusammen? Was ist die musikalische Form? Wie gehören die einzelnen Abschnitte zusammen? Und wie bereichern die speziellen Spieltechniken das musikalische Geschehen? All das fordert den ganzen Musiker.

Sie sprechen die Form an. Die Capricen sind berüchtigt für ihre improvisatorische Formlosigkeit, eben musikalische Übungen des Kapriziösen. Und Paganini nutzt diese Freiheiten voll aus! In Ihrer Interpretation unterstreichen Sie diesen experimentellen Charakter der Capricen mit Nachdruck. Wie nähern Sie sich dieser Formlosigkeit?

Nehmen wir als Beispiel die erste Caprice. Da folgt auf einen A-Teil so etwas Ähnliches wie ein B-Teil und dann wieder so etwas Ähnliches wie ein A-Teil. Das ist aber alles nicht wirklich systematisch und sehr, sehr frei. Paganini greift immer wieder Material und Harmoniefolgen auf und verändert sie für einen neuen musikalischen Moment, aber nichts wiederholt sich. Dafür muss man eine Welt im Kopf erschaffen, in der sich die Imagination ausleben kann. Da feuern im Gehirn alle Zylinder! Ich stell’ mir also ein Land, ein Landschaft oder eine Tageszeit vor. Und diese Szenen im Kopf sind sehr frei und offen, nahezu improvisatorisch. Weil es keine feste Form gibt, muss man auch nicht nach Hause zurückkehren und die Caprice am Ende musikalisch schließen. Es geht einfach immer weiter. Das ist wahnsinnig modern!

Und mit Blick auf den Zyklus?

Um die 24 zusammenzufügen, schaue ich nach offenen Enden. Welche Caprice braucht am Anfang viel Brillanz? Welche beginnt eher delikat und intim? So ergeben sich sinnvolle Zweier- und Dreiergruppen, die sich nicht nur musikalisch richtig anfühlen müssen, sondern auch physisch. Der Körper reagiert beim Spielen der Capricen: man muss wissen, wo man sich entspannen kann, wo es pure Energie braucht und wo man Kraft tanken kann für den Marathon, dem man sich da stellt.

Das Hirn feuert auf allen Synapsen … und dabei entstehen Szenen im Kopf? Wie abstrakt oder konkret sind diese Bilder?

Wenn ich alle 24 Capricen spiele, wird jede einzelne für mich zu einem Land. Die erste ist so explosiv und wild, extrem, virtuos, fast ‚showy‘ und wahnsinnig aufregend. Vielleicht ein Silvesterfeuerwerk in Dubai. Die zweite kann komplett anders sein. Vielleicht jemand, der auf der Gitarre in den Bergen spielt, vielleicht in den Anden. Die vierte ist vielleicht die dramatischste und deutscheste von allen. Voller dunkler Harmonien und mit diesen extrem langen Phrasen, fast wie in der Oper. Solche Bilder entstehen da bei mir im Kopf. Jede Caprice wird zu einer ganz neuen inneren Landschaft.

Ihre Interpretation lotet dabei Welten jenseits der virtuosen Show aus. Ihre Capricen scheinen von einem dunklen inneren Kontinent zu erzählen und ihre Kraft gerade aus den verhalteneren Untiefen in Moll zu beziehen. Ist das eine Absage ans Virtuosentum, mit dem man Paganini wohl zuerst assoziiert?

Auf den ersten Blick schreit einem jede der Capricen all ihre technisch-virtuosen Herausforderungen lauthals ins Gesicht. Wenn man jedoch den Gegenpol mitdenkt, gewinnt man einen viel nuancierteren Blick auf Paganini. Die fünfte Caprice steht zwar in Moll, ist aber deswegen nicht weniger explosiv. Die siebente beginnt zwar in Moll, hellt dann aber auf, gefolgt vom Es-Dur der achten und den Sternen und Kugelblitzen im Allegretto der neunten. Nummer elf beginnt als Pastorale, bevor sie ins Spielerische wechselt. Es gibt bei Paganini eigentlich immer ein Gleichgewicht der Welten. Selbst in den Moll-Capricen finden sich immer wieder Momente der Leichtigkeit, des Spiels, der Freude. Und genauso haben alle Capricen in Dur ihre Abgründe, ihre dunklen Seiten — geradezu die Gedankenwelt eines Philosophen. Philosoph ist sicherlich nicht das Wort, was den meisten bei Paganini einfällt. Eher Showman oder Performer. Aber wenn man diese scheinbaren gegensätzlichen Welten bei ihm ernst nimmt, entsteht etwas wirklich Besonderes.

Das klingt nach einer komplexen, nahezu existentialistischen Philosophie der Gefühle.

Paganini verkörpert für mich eine Vielzahl disparater Emotionen, die bei ihm scharf nebeneinander stehen, ganz ohne Übergänge und ohne Graubereiche. Er nimmt den Hörer nicht an die Hand und führt ihn behutsam von einer Emotion zur andern. Da setzt er ganz hart Schwarz gegen Weiß.

Diese emotionale Achterbahn ist in Ihren Ohren eben keine auf Show und Effekt ausgelegte Gefühlsmanipulation des Publikums?

Die emotionalen Kontraste haben immer einen ganz konkreten Sitz in der Welt. Man kann sie als reine Show verstehen oder als intellektuelle Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Als Virtuosen-Show wären sie ziemlich hohl, aber wenn man sie mit der Welt in Beziehung setzt, entfalten diese Kontraste eine ungeahnte intellektuelle, philosophische Tiefe. Ich möchte, dass das Publikum sieht, was ich sehe, weil das Imaginäre ein so großes Potential hat. Das meine ich, wenn ich Paganini als Philosoph verstehe.

Zugleich hebt Ihre Interpretation hörbar die humoristischen Aspekte Paganinis hervor. Nun schließen sich Philosophie und Humor nicht aus, aber wie lacht der Philosoph Paganini in Ihren Ohren?

Paganini war kein Monolith. In seiner Person vereinen sich ganz viele Seiten. Er war übernatürlich begabt und hatte seinen Spaß auf der Violine. Und über diesen spielerischen Zugang hat er neue Spieltechniken entdeckt. Er hat einfach Sachen ausprobiert. Er spielt, er scherzt, er treibt Schabernack mit der Geige als Instrument und Gegenüber. Kann ich die Geige zum Lachen bringen? Kann sie für mich weinen? Was gibt sie mir zurück? Wenn er improvisierte, imitierte er oft die Welt. Mitten in einer spontanen Variation über die Hymne des Landes, in dem er gerade auftrat, konnte er Vogelstimmen einbauen, oder gar die Schreie eines Ziegenbocks. Dafür muss man schon ein bisschen verrückt sein, man muss aber auch gewitzt und verspielt sein. Und diese Freiheit, Leichtigkeit und Verspieltheit geht bei Paganini Hand in Hand mit der dunkleren, philosophischen Seite.

Wenn ich Ihnen zuhöre — beim Reden, wie beim Spielen — entsteht der Eindruck, dass von Paganini eine direkte Linie zu den erweiterten Spieltechniken der Avantgarden führt.

Wir vergessen manchmal, dass Paganini viele dieser Spieltechniken erfunden hat. Vor ihm hat zum Beispiel niemand Doppelflageoletts in Kompositionen verwendet. Gab es einfach nicht! Und er schreibt das einfach in die Capricen, als wollte er sagen: Hey, ich kann das spielen, jetzt müsst ihr das auch. Er hat immer experimentiert, die Grenzen des Instruments verschoben. Bei den Konzerten sieht das etwas anders aus. Da steht Rossini oft Pate, und Paganini kombiniert seine technisch-virtuose Begabung mit einem liedhaften Opernstil. Ein wenig scheint das in Caprice 21 durch. Als Spielanweisung steht da Amoroso; es beginnt, tief ein Bass zu singen, und dann antwortet ein Sopran. So entspinnt sich ein Duett auf der Geige, bevor Paganini im zweiten Teil diesen Ausflug in die Oper unvermittelt mit einem schnellen Staccatolauf abbricht. Wieder ganz ohne Übergang. You have to go with the flow.

In den Momenten, in denen Sie mit großen Bogen, den Erwartungen an den Virtuosen zu entsprechen scheinen, lassen Sie aber auch nie den Philosophen zurück. Der Philosoph scheint in diesen Momenten mit einem wissenden Lächeln auf den Virtuosen zu blicken und man hat als Zuhörer den Eindruck, Sie zelebrierten das mit einer fast brechtischen Distanz …

Bei den Capricen schreibt man als Interpret die Geschichte und schaut zugleich zu, was da passiert. Man spielt, man führt aus. Man spürt Instrument und Musik physisch. Und zugleich arbeitet der Kopf auf Hochtouren daran, den Überblick zu behalten, über die Violine hinauszuschauen. Man muss daran denken, was beim Publikum ankommt. Aber das ist eigentlich ein sehr natürlicher Teil bei jeder Performance. Es gibt immer ein Bewusstsein dafür, dass man kommuniziert. Manchmal richtet man seine ganze Aufmerksamkeit auf das Publikum, manchmal vergisst man alles um sich herum. Diese beiden Extreme und alles dazwischen gehören für mich zu Paganinis Capricen.

Nach dieser ungemein aufschlussreichen, zweiten Besteigung im Medium der Sprache bleibt die Frage: was kommt nach dem Mount Everest?

Schlaf!

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