Eigentlich passt dieser Ring auf Originalinstrumenten der Wagnerzeit so gar nicht zum Restprogramm der Dresdner Musikfestspiele. Auf den Programmzetteln stehen doch sonst Konzerte mit David Garrett und Anne Sophie Mutter neben Pop und Jazz – mehrheitlich massentaugliche Programme! Dagegen ist ein historisch informierter »Ring«, der sich über vier Spielzeiten erstrecken wird und dieses Jahr mit dem »Rheingold« begann, ein Orchideenprojekt für orchideenliebende Spezialisten.
Neugierig radelte ich also zum Kulturpalast. Im berühmten Es-Dur Akkord des Vorspiels fremdeln die Rheinwellen noch mit dem Elbufer. Was will ich hier, ruft der Fluss uns zu. Statt mystischem Grund geleiertes Plätschern! Doch dann öffnet Kent Nagano die Staumauern der musikalischen Imagination. Das Ensemble verwandelt Wagners Väterchen Rhein in einen wilden Fluss mit Mäandern, rollenden Steinen, Auwäldern, Wasserstürzen, Wirbeln und lichtglitzerndem Wellenspiel.
Die Aufführung basiert auf akribischer musikologischer Forschung und wird mit Fördermillionen der Bundeskulturstiftung unterfüttert. Genutzt werden Nachbauten, aber auch historische Instrumente. Gebaut wurden sie ein Jahr nach Wagners Tod und waren in Weimar schon als Schrott abgeschrieben worden – weil nicht „D-Mark-tauglich“. Die Streicher spielen durchweg auf Darmsaiten. Und: man hat sich entschieden, nach Wagners ursprünglichem Plan nur drei Fagotte erklingen zu lassen. Das bis heute übliche zusätzliche Kontrafagott kam nur ins Spiel, weil die A-Stürze, verlängerte Bassstangen für mehr Tiefe, nicht termingerecht zur Uraufführung in München ankamen.
Das Klangergebnis unterscheidet sich dabei nicht so fundamental vom modernen Wagnerklang, wie man das vielleicht von der historisch informierter Barockmusik herkommend erwarten mag. Die Differenzen finden sich eher auf der Ebene von Nuancen. Doch diese Nuancen haben es in sich. Sofort leuchtet die Balance zwischen Holz, Blech und Streichern ein. Immer wieder gibt es Aha-Momente. Ach, so sollte das klingen! Obwohl die Schafsdärme leiser und weicher sind als ihre modernen Pendants, überdecken die Bläser sie nie, schmiegen sich an, streicheln. Stieß der Saal bei Marek Janowski und den modernen Instrumenten der Philharmoniker im Ringzyklus immer wieder an seine obere Lautstärkegrenze, scheint er hier trotz großer Besetzung wie gemacht für den historischen Apparat. Dabei klingt das physisch mögliche Fortissimo durchaus beeindruckend, besonders wenn die Riesen geräuschhaft durch die Partitur poltern.
Anders ist dieses »Rheingold« auch bei den Sängern. Auch hier wurde historisch informiert geprobt. Alle Sänger haben einen dreistufigen Probenprozess durchlaufen, bei dem sie zuerst unbegleitet sprechen, dann zur Musik rhythmisch deklamieren, bevor sie im letzten Schritt singen. Dabei beruft man sich auf historische Sprech- und Gesangsschulen. So werden einige Vokale etwas anders gefärbt als in der modernen Standardsprache, das R durchweg als rollen-trillerndes Zungen-R realisiert, auch im Wortausklang. Am Vortag konnte man dies beim Werkstattkonzert im Albertinum anhand von Kostproben mit Klavierbegleitung wunderbar nachvollziehen. Die Rheintöchter (Ania Vegry, Ida Aldrian, Eva Vogel) klangen betörend fremd und herb, als hätten sie, in unseren modernen Ohren, einen tiefen Schluck aus einer slawisch-schweizerischen Flasche genommen. In der Aufführung mit Orchester waren diese Unterschiede der Diktion allerdings kaum noch wahrnehmbar.
Was man aber sehr wohl hört, ist die größere Bandbreite an möglichen Stimmmodalitäten. Hier wird gesprochen und gesungen. An dramaturgisch akzentuierten Stellen wechseln alle Partien immer wieder kurz vom Gesang in einen Sprechgesang, den wir heute nur noch aus Schönbergs Pierrot Lunaire kennen. Außerdem erlaubt die originale dynamische Disposition des Orchesters eine für uns ungewohnte sängerische Vielfalt. Im heutigen Opernbetrieb greift man gezwungenermaßen auf eine kleine Schar spezialisierter Wagnersänger zurück, die den nötigen hochtourigen Dezibelrausch liefern. Wagner standen diese vokalen Hochleistungsturbinen allerdings (noch) nicht zur Verfügung; er musste sich auf ihre vornehmlich an französischer und italienischer Oper geschulten Gesangskollegen verlassen.
In Dresden kann man dieses mögliche Spektrum der Stimmen nun staunend bewundern. Da steht neben dem bezaubernd weich-dunklen Wotan des wagnererprobten Australiers Derek Welton ein spielfreudig agierender Loge, dem Mauro Peter einen lyrischen, an seine derzeitige Paraderolle als Tamino erinnernden Mozartklang verleiht. Der Österreicher Daniel Schmutzhard liefert in der heimlichen Hauptrolle des »Rheingolds« eine differenzierte Charakterstudie, die in Alberich einen modernen Menschen zwischen Sehnsüchten, Enttäuschungen und Scheitern erkennen lässt. Hinzu kommt die ätherisch-transzendentale, an Mahlerlieder erinnernde Erda von Gerhild Romberger und Tijl Faveyts’ überzeugender Fasolt, der uns von allem plump Riesenhaften befreit einen auf Gerechtigkeit dringenden, gegen die Willkür der Götter aufbegehrenden Menschen nahebringt. Gemeinsam trägt das fantastische Gesangsensemble dieses wagnersche Rewilding-Projekt nach Walhalla. Da wippt der Schuh des Rezensenten, mitgerissen von den Schnellen, die Kent Nagano dem Rheingold entlockt.
Vorbei geht es an Kohlröschen, braunrotem Stendelwurz, an Waldhyazinthe, Herbst-Wendelorchis, an langblättrigem Spinnen-Ragwurz, an Pyramiden-Knabenkraut, an Einblatt und Zweiblatt, an Hohlzunge, Weißzunge und Bocks-Riemenzunge. Und ganz am Rande leuchtet purpurn Dactylorhiza praetermissa – der übersehene Fingerwurz. Orchideen für Orchideenliebhaber und alle, die es werden wollen.