Am heutigen Donnerstag, dem 17. August, feiert der Dresdner Dirigent Christian Kluttig seinen 80. Geburtstag. Von seinem Kollegen Ekkehard Klemm stammen die folgenden Glückwunschzeilen.
Die Aufarbeitung von „Kunst im Osten“ ist ein sehr aktuelles Thema und inzwischen sogar in Deutschlands ältester und bedeutendster Akademie der Wissenschaften angekommen: Im September findet eine Tagung zu „Ostdeutsche Kunst – Perspektiven und Bestandsaufnahme“ in Halles Museum an der Moritzburg und der Leopoldina statt.
Kleiner Wermutstropfen: Die Musik ist in den Vorträgen nicht dabei. Wir Musikerinnen und Musiker haben uns daran gewöhnt, dass mit ‚Kunst‘ oft nur die Bildende Kunst im engeren Sinne gemeint ist. Etwas schade und eine vergebene, vielleicht aufzuarbeitende Chance, denn gerade Halle hätte so vieles zu erzählen – einer ganz besonders: Christian Kluttig, GMD am dortigen Opernhaus und beim Händelfestspielorchester in der Zeit zwischen 1979 – 1990, knapp 10 Jahre davon gemeinsam mit dem Operndirektor und späteren Professor und Prorektor der Dresdner Musikhochschule Andreas Baumann. Allein die Liste der Händel-Produktionen liest sich beeindruckend und steht für die international bewunderte neue Interpretation, einerseits unter Berücksichtigung historischer Spielpraxis, andererseits mit ambitionierten Regiehandschriften. In 11 Jahren erklangen Ezio (1979 – Premiere unter Max Pommer, weitere Aufführungen mit CK), Agrippina (1980), Poro (1981), Alessandro (1982), Floridante (1984), Il pastor fido und Terpsichore (1985), Partenope (1985), Rinaldo (1987), Oreste (1988) und Tamerlano (1990). Herausragende Soli dieser Zeit waren u.a. Annette Markert, Juliane Claus, Hendrikje Wangemann, Jürgen Trekel und Tomas Möwes. Als Gast war Simone Kermes dabei, als junger Counter wurde Axel Köhler verpflichtet, der jetzige Rektor der Dresdner und demnächst der Stuttgarter Musikhochschule. Am Pult jedes Mal: Christian Kluttig, der damit wohl zum besten Kenner des Händelschen Opernkosmos avanciert. In einem Rückblick schreibt Susann Krieger für MDR-Klassik:
„Die 1980er sind auch geprägt durch das Regietheater etwa eines Andreas Baumann oder Peter Konwitschny. Ihre zeitgenössischen Interpretationen prägen das neue Bild der Händel-Opern. Mit der Wiederentdeckung und Neu-Interpretation von Händels Oper Floridante durch Christian Kluttig und Peter Konwitschny begann von Halle aus eine neue Ära der Händel-Rezeption.“ Kluttig selbst erinnert sich: „Die letzte Inszenierung, die ich mit Konwitschny gemacht habe, war der Tamerlan, … [es] begann damit, dass der Eiserne Vorhang ganz unten war. Und dann auf einen besonderen Wink hob sich der bis zu halber Höhe, also das war Zeitgeschichte auf der Opernbühne.“ Von Halle aus gastierte manche der Produktionen im europäischen Ausland, so beim Prager Frühling, Kissinger Sommer (damals noch Ausland!), bei den Festwochen für Alte Musik Innsbruck, in Polen und Ungarn. Nach 1990 wurde eigens das „Barock-Ensemble-Halle“ mit historischen Instrumenten ins Leben gerufen, das später im neu gegründeten „Händelfestspielorchester“ aufging. Floridante war die erste Produktion, bei der alle Partien in originalen Stimmlagen besetzt wurden – auch das musste gegen Widerstände durchgesetzt werden.
Fast noch wichtiger sind die Aufführungen der Oratorien Jephta und vor allem Theodora, beide in der sozialistischen Händel-Rezeption nicht gelitten. Kluttig bekam den Bescheid, dass insbesondere Theodora nicht zu jenen Werken gehöre, mit dem Händel „den Gedanken der Aufklärung musikalische Flügel verleihen wollte und mit dem man die sozialistische Arbeiterklasse begeistern könne, sondern nur eine christliche Märtyrerlegende“. So zitiert der Dirigent aus der Erinnerung ein entsprechendes Verdikt der SED-hörigen Händel-Forscherin Johanna Rudolph. Kluttig setzte sich darüber hinweg und setzte 1983 eine Aufführung durch.
Aber es war nicht nur Händel, mit dem Akzente gesetzt wurden. Die erfolgreiche und von den Mächtigen der Kulturpolitik bekämpfte Oper Der Preis von Karl Ottomar Treibmann war eine wichtige Aufführung im Bereich der zeitgenössischen Musik, ganz besonders aber die Uraufführung des Candide von Reiner Bredemeyer 1986. Im Konzertbereich erklangen Uraufführungen von Avet Terterian, Gerd Domhardt, Günter Neubert und Primož Ramovš‘.
Schwerpunkte waren ansonsten selbstverständlich auch das große romantische Repertoire. Ich persönlich bewunderte Kluttig bereits in seiner Zeit am Opernhaus meiner Heimatstadt Chemnitz, wo er die Carl-Riha-Inszenierung der Meistersinger von Nürnberg dirigierte und mit dem Hans Sachs des Konrad Rupf sowie dem Beckmesser des Egon Schulz zwei Koryphäen zur Seite hatte, die jedem Weltklasse-Haus zur Ehre gereicht hätten. In Chemnitz und Halle begann Kluttig auch mit seinem nachdrücklichen Einsatz für die Sinfonien Dmitri Schostakowitschs und Gustav Mahlers, ein Engagement, das er in seiner Zeit am Niederrhein in Koblenz fortsetzte. Mit der 1. Sinfonie von Mahler startete Kluttig in Chemnitz, die 6. erklang unter seinem Dirigat mit Mrawinskis Orchester im damaligen Leningrad. Die „Sinfonie der Tausend“ stand in Koblenz zur 2000-Jahr-Feier 1992 auf dem Plan.
Persönlich begegnet sind wir uns erstmals im Zusammenhang einer Mentorenschaft, die Kluttig für mich in der Vorgängerinstitution des heutigen „Forums Dirigieren“ übernahm. Es darf nicht vergessen werden, dass diese recht einzigartige Fördermöglichkeit des Deutschen Musikrates von den Dirigenten Masur, Gülke, Reuter und dem Manager und Musikwissenschaftler Klaus Harnisch, der auch für Friedrich Schenker Libretti schuf, aus dem Osten des Landes mitgebracht wurde – eine der wenigen und eindeutig positiven Errungenschaften, die es über die ‚Wende‘ geschafft haben. Kluttig galt als einer der jungen Förderer der entsprechenden Formate, als Altenburger Kapellmeister hatte ich nicht weit zu fahren, allerdings mit 100 Vorstellungen jährlich so viel zu tun, dass unsere Begegnungen selten waren. An ein sehr interessantes Besprechen der „Eroica“ erinnere ich mich ebenso wie an den Besuch Kluttigs meiner Altenburger Entführung aus dem Serail mit gestrenger Kritik im Anschluss. Da war er nicht zimperlich – und das war gut so. Sein dirigierender Sohn Roland wird davon nicht verschont geblieben sein. Der aus Graz leider scheidende GMD gilt als exzellenter Interpret gerade im Bereich zeitgenössischer Musik und war bisher Garant aufregender Opernproduktionen in Coburg, Frankfurt a. M., Stuttgart, Graz, in Frankreich und Schweden.
Bereits in den 80-er Jahren begann Christian Kluttig mit dem Unterrichten in Leipzig. 1998 trat er eine halbe Professur für Orchesterdirigieren in Dresden an, die er 2000 als ganze Stelle in Leipzig fortsetzte. Nach den Auswirkungen einer irreversiblen Erkrankung des Gehörs kehrte er als Lehrbeauftragter 2004 noch einmal nach Dresden zurück, wo er nach Beendigung der Lehrtätigkeit vor ca. 10 Jahren neben vielen anderen Aktivitäten als Pianist und Liedbegleiter dem Verein der Alumni der HfM Dresden vorsteht. Zu seinen direkten Schülern zählen u. a. Titus Engel, Stefan Sanderling, Lukas Beikircher (Innsbruck), Florian Czismadia (Theater Vorpommern), Cheng Jie Zhang (Oper Shanghai), Andrea Barizza (Dresdner Bläserphilharmonie), Moritz Gnann (zuletzt Assistent in Boston), Diego Martin Etxebarria (zuletzt Kapellmeister in Chemnitz). In Kursen des Forums Dirigieren betreute er u. a. Alexander Merzyn (Cottbus), Leslie Suganadarajah (Salzburg) und Felix Bender (Ulm). Der gegenwärtig bei der Dresdner Philharmonie erfolgreiche Bruno Borralhinho – ehemals Cellist des Orchesters – und auch die neue Leiterin des Philharmonischen Chores Iris Geißler lassen sich gern von Christian Kluttig beraten. Und wenn im Konzert der Elbland Philharmonie Sachsen statt der bekannten Fassung der „Italienischen“ von Mendelssohn dessen eigene Revision von 1834 erklang, so ist das ein Ergebnis vieler schöpferischer Gespräche, die ich selbst mit Kluttig seit 1985 haben durfte.
Zusammen mit Sir Colin Davis, dem damaligen Orchesterdirektor an der Dresdner Musikhochschule Prof. Bernd Haubold, Prof. Karl-Heinz Knobloch und – nicht zu vergessen – der unermüdlichen Dr. Katrin Bauer initiierte Kluttig Meisterkurse, die zu einem who is who erfolgreicher Dirigentinnen und Dirigenten avancierte: Vassilis Christopoulos, Antony Hermus, Andres Filipe Orozco-Estrada, Eva Pons, Markus Poschner, Andreas Schüller, Sebastian Tewinkel, Pit Uhden kamen zusammen mit insgesamt ca. 40 Teilnehmenden im Jahr 2000 aktiv oder passiv an den Wettiner Platz und in die Lukaskirche als Probenort. Sie alle sind heute in vielerlei leitenden Positionen tätig. In Leipzig initiierte Kluttig ähnliche Formate mit Kurt Masur, Fabio Luisi und Herbert Blomstedt und gab dabei das weiter, was der beim Dresdner ‚Urgestein‘ Rudolf Neuhaus ausgebildete Dirigent selbst bei Arvīd Jansons und Igor Markevitch in Weimar sowie Hans Swarowsky und Witold Rowicki in Wien erlebt hatte.
Für die dirigentische Praxis seiner Studierenden baute Kluttig Kooperationen mit der damaligen Neuen Elblandphilharmonie und der Polnischen Kammerphilharmonie auf. Während in Riesa, Pirna und Großenhain über mehrere Jahre Klavierkonzerte von Beethoven und Chopin sowie Werke von Schumann im Vordergrund standen, wurde in Zopot anspruchsvolle Kammerorchesterliteratur wie bspw. die Lyrische Suite von Alban Berg in jeweils einwöchigen Kursen musiziert. Die Zusammenarbeit war durch die Freundschaft mit dem bekannten polnischen Dirigenten Wojchiech Rajski zustande gekommen. Für das Schloss Namedy in der Nähe von Koblenz wurde darüber hinaus ein Zyklus von Konzerten mit Kammerfassungen von Werken Mahlers, Schönbergs und Bergs in Kooperation zunächst mit der HMT Leipzig, später der HfM Dresden konzipiert. Für die jeweiligen Hochschulorchester und Dirigierklassen bedeuteten diese Konzerte wichtige künstlerische Erfahrungen und die Einarbeitung in komplizierteste Materie, die sonst kaum an einer Musikhochschule zur Aufführung kommen kann.
So hat Christian Kluttig in vielerlei Weise und Richtung Spuren hinterlassen. Sie bedeuten ein gutes Stück Musikgeschichte in aufregenden Zeiten großer politischer wie kultureller Herausforderungen. Die direkten künstlerischen Erfahrungen der Jahre zwischen 1967 – 1998 mündeten in eine umfangreiche pädagogische Tätigkeit, von der sehr viele heutige Kolleginnen und Kollegen am Pult profitieren. Als 1943 Geborener tat er das 22 Jahre lang im Osten, gastweise im Westen, danach nochmals etwa die gleiche Zeit im vereinten Land. Christian Kluttig ist damit zwar ein Künstler mit ostdeutscher Biografie, keinesfalls aber ein DDR-Dirigent. Er ist einer jener aus dem Osten, die gegen allerlei Widerstände die Maßstäbe eines Kempe, Abbado, Harnoncourt, Swarowsky oder Jansons persönlich kennengelernt, gelebt und vermittelt haben. Avancierten Regiehandschriften hat er im Musiktheater Brücken gebaut und Türen geöffnet. Insofern ist er ein wichtiger Zeuge auch jener weiter gefassten „ostdeutschen Kunst“, von der anfänglich die Rede war und die hinsichtlich der Musik einer gründlichen Aufarbeitung bedürfte. Mit großer Aufgeschlossenheit, tiefem Wissen und künstlerischer Kraft hat Christian Kluttig wichtige Spuren hinterlassen, an die anzuknüpfen uns allen und die aufzuarbeiten der Musikwissenschaft noch genügend Material bietet.
Danke für alle Anregungen auch und gerade im Namen der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Wir brauchen Persönlichkeiten, die mit solcher Biografie, Aufrichtigkeit und unprätentiösem Auftreten Musik betrachten, formen und gestalten. Die Christian Kluttig von Peter Gülke vor zehn Jahren attestierte Verbindung von „Bescheidenheit mit der Autorität eines Hochkompetenten“ – sie möge uns in vielerlei Variationen weiter anregen und Zeugnis ablegen von einem Musikverständnis, das selten geworden ist.
In diesem Sinne: Herzliche Glückwünsche, Gesundheit und nimmermüde Schaffenskraft!