Der erste Weltkrieg hat große Umbrüche in der damaligen Gesellschaft ausgelöst, und auch die Kunst hinterfragte ihr Dasein, ihren Sinn auf ganz eigene Weise – 1916 entstand in Zürich die berühmte DADA-Bewegung um Hugo Ball und Hans Arp, die sich schnell auf große Kunstzentren der Welt ausdehnte und dort eigene Zirkel bildete. Auch in Dresden gab es um 1919/1920 eine lose DADA-Gruppierung, einer der Wortführer in dieser Zeit war der Komponist Erwin Schulhoff (1894-1942).
Ihm war 2018 ein Tag mit musikwissenschaftlichen Vorträgen und musikalischen Aufführungen an der Dresdner Musikhochschule gewidmet, um an seine Persönlichkeit und sein knapp zweijähriges Wirken in der Stadt zu erinnern.
Jetzt liegt als „Dresdner Schriften zur Musik Band 15“ ein umfangreiches Kompendium zu dieser Beschäftigung mit Schulhoff als Buchveröffentlichung im tectum Verlag vor. Herausgeber Matthias Herrmann versucht darin, die Beiträge der Veranstaltungen zusammenzufassen und mit weiteren Dokumenten zu Schulhoff zum einen den Spuren nachzugehen, die der Komponist in Dresden hinterlassen hat. Auch die immens wichtigen Vernetzungen und Ausstrahlungen werden benannt, die die DADA-Bewegung etwa mit den Vertretern der „Dresdner Sezession Gruppe 1919“ initiiert hat und die im heutigen Bewusstsein der Kunststadt Dresden ansonsten nur marginär und eben zu Jahrhundertjubiläen oder an Einzelbiografien orientiert zu kurz in die Öffentlichkeit gelangen.
Vielleicht trägt dieses Buch ja dazu bei, dass sich kulturbegeisterte Menschen erinnern, dass Dresden in den 20er Jahren tatsächlich ein künstlerischer Hotspot war. Man kann anhand der von Herrmann zu Beginn skizzierten Biografie des jungen Komponisten aus Prag, der 1919 in Dresden anlandete, bereits erkennen, dass politische, soziale und künstlerische Belange sich nicht nur in der Theorie oder in den Diskussionen vermischten, sondern Veröffentlichungen oder Verlautbarungen auch die Obrigkeit auf den Plan rief. Denn nicht nur linkes, anarchisches Gedankengut wurde mit DADA gewürzt auf die Bühne gebracht, auch Jazz, Tango, die Karikatur und Erotik gehörten nun zu den Ausdrucksmöglichkeiten und Werkzeugen, mit denen lustvoll in den Varietés und Cabarets gespielt wurde. Damit konnte man manch bürgerlichen Konzertgänger (v)erschrecken, aber in Schulhoffs eigenen „Fortschritts“-Konzerten in Dresden stießen die neuen Werke auch auf großes Interesse.
Als Komponist in seiner Zeit ist Schulhoff auch heute noch zu wenig entdeckt und betrachtet – das Buch gibt Aufschluss über seine musikalischen Experimente in der kurzen, aber fruchtbaren Dresdner Phase, sieht aber auch die Findungs- und Kontaktbemühungen eines selbstbewussten jungen Künstlers, der sich nicht scheute, Jazz in seiner Klavierkompositionen und Opern einfließen zu lassen oder Arnold Schönberg einen „ganz großen Hanswurst“ zu nennen . Dass er eine eigene Partitur mit dem Vermerk „Zur Auffrischung des Dresdner Musiklebens“ versieht, mag man als zünftige Ansage verstehen, weniger als differenzierte Analye des Vorgefundenen, die er in der Kürze seiner Anwesenheit sicher nicht vornehmen konnte.
In den einzelnen Beiträgen und einem großen Abbildungsteil mit Abdrucken von Plakaten, Briefen oder Annoncen kann man sich in die Zeit hineinversetzen, lernt Schulhoffs eigene Reflektionen in einem umfangreichen Korrespondenz- und Tagebuchteil kennen und mag sich durch erfrischend-erhellende (Tobias Schick) oder auch akademisch-kryptische (Michael Heinemann) Werkanalysen durcharbeiten. Der kommentierte Tagebuchteil umfasst sogar die Jahre 1911-1941 und wird in diesem Band erstmalig überhaupt veröffentlicht.
Wenn dieses Buch einen Baustein zur Wertschätzung der musikgeschichtlichen Bedeutung von Erwin Schulhoff leisten soll, so ist dies auf etwas bunte und zwischen Analyse, Meinung und Dokumentation natürlich schwankene, aber inspirierende und lesenswerte Art gelungen, so dass man nur hoffen kann, dass dieser Publikation dazugehörige (Wieder-) Aufführungen von Schulhoff-Werken und ebensolchen seiner bis heute vernachlässigten Zeitgenossen der DADA-Szene stattfinden mögen – dies wäre ein dringend notwendiger, zu belebender Umgang mit der Kunstavantgarde-Geschichte Dresdens.
Am 13. April 2024 ist eine öffentliche Buchvorstellung an der Musikhochschule gemeinsam mit dem Dresdner Geschichtsverein geplant.
Dresdner Schriften zur Musik, Band 15
(herausgegeben von Matthias Herrmann):
Überdada, Componist und Expressionist – Erwin Schulhoff in Dresden. Mit Briefen, Dokumenten und seinem Tagebuch
ISBN 978-3-8288-4616-6
418 Seiten, 86 z.T. farbige Abbildungen
Tectum Verlag, Baden-Baden